LEITARTIKEL

Rechtferti-gungsdruck

d'Lëtzebuerger Land vom 05.02.2021

Der von Minderjährigen erstochene 18-Jährige sei die „Spitze vom Eisberg“, hieß es im RTL-Journal vergangene Woche. Im anschließenden Beitrag kam Hauptstadt-Bürgermeisterin Lydie Polfer (DP)mit der Aussage zu Wort, die Gewaltbereitschaft steige ständig. Das Gratis-Blatt L’Essentiel titelte, angesichts des Mords bestehe Handlungsbedarf. Zwei jugendliche Messerangriffe, davon einer mit tödlichem Ausgang, binnen einer Woche sind für Luxemburg in der Tat außergewöhnlich.

Ein Beweis dafür, dass die Jugendkriminalität oder die Gewaltbereitschaft junger Menschen hierzulande zunimmt, sind sie aber nicht. Die Statistik zu Straftaten in der Hauptstadt, die der grüne Polizeiminister Henri Kox auf eine parlamentarische Anfrage der ADR vorlegte, liefert hierfür keinerlei Hinweise: Wohl wurden 2020 insgesamt mehr Straftaten im Stadtgebiet verübt, die Mehrheit davon waren Drogendelikte. Zum Alter der Tatverdächtigen fehlen jedoch Angaben.

Die alljährliche Polizeistatistik wies für Luxemburg bis 2017 eine stabile Entwicklung bei jugendlichen Straftaten und mutmaßlichen jugendlichen Straftäter/innen aus, seitdem fehlen nach Alter aufgeschlüsselte Daten. Das ist bedauerlich, denn sie sind für eine kontinuierliche Kriminalitätsforschung unabdingbar und überdies wichtige Puzzleteile, um das Phänomen der Jugenddelinquenz zu verstehen, Negativtrends frühzeitig zu erkennen und ihnen zu begegnen.

Bonneweg gilt in der Hauptstadt als Problemviertel: Es liegt in Bahnhofsnähe und ist als Treffpunkt verschiedener sozialer Randgruppen bekannt. In dem Stadtteil sind mehr Streetworker und Sozialarbeiter unterwegs als in anderen Vierteln, obschon sie während der Corona-Pandemie weniger zu sehen sind. Trotzdem gilt Bonneweg als aufstrebendes Viertel und beliebte Adresse für junge Familien, Hipster und andere Yuppies. Die Gentrifizierung lässt sich an den exorbitanten Wohnpreisen ablesen. Rivalisierende, gewaltbereite Jugendbanden gab es dort bisher nicht.

Dass die Corona-Ausgangsbeschränkungen die Jugend zunehmend frustrieren und vielleicht sogar aggressiver machen, mag einleuchtend klingen, aber auch dafür fehlen bisher schlichtweg die Belege. Eher scheinen die zwei Messerattacken Einzelfälle zu sein, wenngleich mindestens einer der Täter polizeilich bekannt war.

Im Ausland geht der Trend bei der Jugendkriminalität in die entgegengesetzte Richtung: Kriminolog/innen stellen fest, dass die heutigen Teenager in der Mehrzahl gesetzestreuer sind als frühere Generationen, was damit zusammenhängt, dass sie wegen der Digitalisierung weniger rausgehen, sondern ihr Freizeitverhalten ins Internet verlagern. Dass Jugendliche generell häufiger Straftaten begehen als Erwachsene ist nicht neu und nicht ungewöhnlich: Die Jugend ist die Lebensphase, in der sich junge Menschen testen, sich an Normen reiben und durch erhöhtes Risikoverhalten auffallen.

Und sogar wenn es einen Anstieg von Straftaten in der Hauptstadt gäbe, wäre dies nicht sogleich ein Beleg für mehr (Jugend-)Kriminalität, sondern erst einmal nur dafür, dass mehr Taten zur Anzeige gebracht und polizeilich verfolgt würden. Steigende Trends in der Statistik könnten darauf zurückzuführen sein, dass mehr Bürger/innen Taten melden, oder die Polizei, mit mehr Personal ausgestattet, Verbrechen mit größerer Intensität verfolgt. Siehe die häufigen Drogenrazzien am Bahnhof in der letzten Zeit.

In Anbetracht des sonst gern beschworenen Jugendschutzes und der reellen Gefahr, eine Altersgruppe, die Jugendlichen, pauschal zu verunglimpfen, sollten sich Politiker/innen hüten, unnötig und vor allem unbegründet Wut und Angst zu schüren. Zumal wenn sie selbst unter Rechtfertigungsdruck stehen, weil sie statt der anhaltenden Drogenproblematik beizukommen, lieber private Sicherheitsfirmen anheuern, die im Ernstfall sowieso nichts tun können. Empörung und Verunsicherung der Bewohner/innen, die sich Sorgen um ihre Kinder und ihre Lebensqualität machen, sind verständlich – ein Beleg dafür, dass ein Stadtteil verwahrlost oder eine ganze Generation verroht ist, sind auch sie nicht.

Ines Kurschat
© 2024 d’Lëtzebuerger Land