Aufrecht, aber steif und mit steinerner Miene saß DP-Premier Xavier Bettel in der Wahlnacht im Studio von RTL Télé, als die Elefanteronn begann. Als er das Wort erhielt, sprudelte aus ihm heraus, dass die DP mit dem Zuwachs von zwölf auf 14 Sitze der „größte Gewinner“ der Kammerwahlen 2023 sei. Wieviel Freude ihm sein persönliches Resultat bereite: 34 018 Stimmen im Zentrum – Luc Frieden hatte es nur auf 30 999 gebracht. Doch auf die nächste Frage, ob er damit den Premier-Posten beanspruchen werde, falls es zu einer Koalition mit der CSV kommt, entgegnete er: „Ach, das ist nicht so wichtig.“ Was nicht stimmte: Bettel zählte in der DP zu jenen, denen der Gedanke an eine Koalition mit der CSV unter Luc Frieden Unbehagen bereitete. Doch am Sonntag waren ihm die Optionen ausgegangen.
Fünf Jahre zuvor hatte Claude Wiseler in der Elefanteronn gesessen. Und geklagt, es sei „anormal, dass hier nicht mit uns geredet wird“. Wahrscheinlich hätte sich das am Sonntag wiederholt, wenn DP, LSAP und Grüne wenigstens ihre knappe Mehrheit von 31 Sitzen zusammenbekommen hätten. Der CSV-Abgeordnete Laurent Mosar hatte nicht Unrecht, als er am Nachmittag vor dem Wahltag auf X (früher Twitter) schrieb: „All dei Spetzekandidaten-Formater hun sech bis elo drop résumeiert datt et emmer 3 géint 1 waren.“ Am Ende hatte die CSV Glück, die im Grunde auf ihrem Ergebnis von 2018 stagnierte, lediglich 0,9 Prozent an Stimmen hinzugewann und bei 21 Sitzen blieb. Während die DP um 1,79 Prozent und zwei Sitze zulegte, die LSAP um 1,31 Prozent und einen Sitz, die Grünen hingegen um 6,57 Prozent und fünf Sitze abstürzten. Nicht von ungefähr sagte Luc Frieden in der Elefanteronn mehrmals: „21 Sitze sind mehr als ein Drittel des Parlaments.“ Das klingt besser als „nach wie vor zwei Sitze weniger als 2013“ und „fünf Sitze weniger als 2009“. Die CSV ist noch immer stark. Sie wird die nächste Regierung anführen und den Premier stellen; am Sonntag führte an ihr kein Weg vorbei. Aber ob sie jemals wieder so übermächtig wird wie vor Jean-Claude Junckers Sturz, ist fraglich.
Es ist nicht die Wiederkehr des CSV-Staats, die sich nun ankündigt. Der Partei, die ab 1919 „im Verein mit dem Bistum, dem Luxemburger Wort, dem LCGB, sonstigen Sturmtruppen und einem Heer von Vertrauensleuten in allen Schlüsselpositionen des Staats die nationale Politik dominierte“ (d’Land, 19.10.2018). Kirche und Staat wurden unter der ersten DP-LSAP-Grüne-Regierung getrennt. Bistum und Kierchefong müssen ihr Geld zusammenhalten, das Wort wurde vom Bistum an einen internationalen Medienkonzern verkauft. Die Gesellschaft wurde liberaler, die CSV mit ihr. Jean-Claude Juncker legte vor acht Monaten gegenüber dem Land Wert auf den Hinweis, wie viel Mühe schon er sich gegeben habe, „sie aus dem konservativ-reaktionären Dunstkreis herauszulösen, in dem sie sich befand“, (d’Land, 24.2.2023). Einen Rollback der gesellschaftspolitischen Reformen, die unter Blau-Rot-Grün unternommen wurden, wird es nicht geben: Sie haben der Gesellschaft zu Freiheiten verholfen, die keine negativen Auswirkungen auf die Kapitalakkumulation haben.
Vor allem mit Bezug auf das, was man unter „Wettbewerbsfähigkeit“ zusammenfassen kann, dürfte die Politik der von Luc Frieden geführten Regierung sich wohl von den beiden Runden „Gambia“, aber vielleicht auch von den Regierungen unter Jean-Claude Juncker unterscheiden. Frieden ist keiner, der den Herzjesu-Marxisten gibt, wenn es sein muss, wie Juncker. Der Gewerkschaftsflügel der CSV hat an Bedeutung verloren, unter den aktiven Politikern mit Einfluss vertritt nur noch Marc Spautz ihn. Luc Frieden ist ein Mann der ABBL und der Big Four. Die „Herdprämie“, wie Xavier Bettel im Wahlkampf die von der CSV versprochene Verdoppelung des Kindergelds für den „Choix“ einer Daheimbetreuung nannte, dürfte in den Koalitionsverhandlungen vermutlich begraben werden. Sei es, weil Xavier Bettel sie zu einer „roten Linie“ erklärt hatte, die mit der DP nicht überschritten werden könne. Sei es, weil Frieden sie selber nicht will, schließlich herrscht Arbeitskräftemangel. Mit einer CSV-DP-Regierung wird das Bündnis wahr, das die Unternehmerverbände sich schon 2018 gewünscht hatten (S. 14). Und das greifbar nahe schien, ehe am Wahlabend damals die LSAP um 21.20 Uhr einen Restsitz im Südbezirk holte.
Am Sonntag verschoben sich die Kräfteverhältnisse im bürgerlichen Block der „Mitte“. Weil die Rekordzahl von 14 Restsitzen vergeben wurde, ist es gar nicht so einfach, von einem „Rechtsruck“ in der Gesellschaft zu sprechen.
Nach der Entmachtung der CSV 2013 gab es einen Trend nach rechts. Die liberalen Koalitionäre vermochten es nicht, Wechselwähler fester an sich zu binden. Bei den Europawahlen 2014 erhöhte die CSV ihren Stimmenanteil um 6,3 Prozentpunkte gegenüber den Europawahlen 2009; DP, LSAP und Grüne büßten ein. Das Referendum von 2015 konnte als ein weiterer politischer Erfolg für die CSV gelten: Als sie aus der Deckung kam und gegen das legislative Ausländerwahlrecht plädierte, roch das Nein zu dieser Frage nicht mehr nach Ausländerfeindlichkeit. Und es erschien gut möglich, dass in den 80 Prozent Nein zu allen drei Referendums-Fragen auch eine Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik, der Mehrwertsteuererhöhung und dem „Zukunftspak“ getauften Sparpaket steckte. Der dritte Teil des Trends nach rechts war an den Gemeindewahlen von 2017 abzulesen: Die CSV gewann landesweit 3,3 Prozentpunkte hinzu, während DP, LSAP und Grüne verloren. Vor allem verlor die LSAP die Vormacht im Südbezirk an die CSV.
Bei den Kammerwahlen am 14. Oktober 2018 schien ihre Rückkehr an die Regierungsmacht nur eine Formsache. Im Wahlkampf vermied die CSV mit ihrem freundlichen Spitzenkandidaten Claude Wiseler eine übermäßige Polarisierung gegenüber den Regierungsparteien. Wiseler behauptete lediglich, einen „Plang fir Lëtzebuerg“ zu haben, während die anderen keinen hätten, Blau-Rot-Grün demnach als Ausrutscher der Geschichte aufzufassen sei. Beim Urnengang 2018 aber fiel der Stimmenanteil der CSV von 34,05 auf 28,9 Prozent, das schlechteste Ergebnis ihrer Parteigeschichte. Die 29,21 Prozent vom 8. Oktober 2023 mit #Luc als Frontmann sind keine Rückkehr zu alter Form. In der zweiten Legislaturperiode Blau-Rot-Grün war Xavier Bettel drauf und dran, zu einer Art „neuem Juncker“ zu werden. Sein persönliches Resultat am Sonntag im Zentrum ist Ausdruck davon. Wenn man den Gemeindewahlen vom 11. Juni 2023 unterstellen wollte, einen Hinweis darauf zu liefern, ob die drei Regierungsparteien abgestraft würden, dann sah es nur für die Grünen danach aus, die ein Sechstel ihrer kommunalen Mandate verloren. Die DP war nach Mandatszuwachs die Gewinnerin vom 11. Juni, wie sie die vom vergangenen Sonntag war. Die CSV verlor leicht, blieb aber die kommunal stärkste Partei. Was vom sozialkonservativen CSV-Staat noch übrig war, hatte einem sozialliberalen DP-Staat Platz zu machen begonnnen.
Zu diesem steht die moderner gewordene CSV ideologisch nicht wirklich im Widerspruch. Doch das drohte ihr die raison d’être zu nehmen. Wenn Blau-Rot-Grün zusammengenommen so etwas wie eine Volkspartei verkörperten, wer brauchte dann noch die Christlich-soziale Volkspartei, die nicht mehr konservativ sein wollte? Durchaus verzweifelt suchte sie nach einem Profil. Versuchte 2019, ökologischer zu sein als die Grünen. Entdeckte auf Weisung ihres zeitweiligen Parteipräsidenten Frank Engel déi kleng Leit, bis die Fraktion Engel aus dem Amt mobbte. Wollte in der akuten Phase der Covid-Krise bald „wissenschaftsbasierter“ sein als die Regierung, bald strenger, etwa mit der allgemeinen Impfpflicht. Als Russland in die Ukraine einmarschierte, gab sie sich atlantischer als die DP und die Grünen mit ihrem Verteidigungsminister, welcher derart kreativ Waffen für die Ukraine besorgen ließ, dass sogar die New York Times dem eine Reportage widmete. Die Widersprüche und politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Koalition, wenn sie nach draußen drangen, waren etwas, das die CSV Ausdruck von Volkspartei zu nennen pflegte, wenn es Reibereien zwischen ihren Flügeln gab. Luc Frieden griff das wahlstrategisch auf: DP, LSAP und Grüne waren ja noch immer drei Parteien. Im Wahlkampf könnte es genügen, „Eng nei Politik“ mit dem richtigen „Leadership“ überall dort zu versprechen, wo unter der Dreierkoalition etwas liegengeblieben war: Die große Steuerreform wegen 5,5 Milliarden Euro Krisenausgaben. Der „Paradigmenwechsel“ im Wohnungbau, hin zu vielen logements abordables in öffentlicher Hand, für den der grüne Minister Henri Kox die legislative Vorarbeit geleistet hatte, die dann aber anderthalb Jahre beim Staatsrat zur Begutachtung liegenblieb. Die Verbesserung der Gesundheitsversorgung, für die LSAP-Ministerin Paulette Lenert keinen Plan hatte und das mit der vielen Arbeit während der Pandemie entschuldigte. Nicht zu vergessen: „Mir brauche Wuesstem!“ Und eine Gemeindepolizei.
Das Wahlresultat spiegelt wider, wie sozialliberal die DP in der Dreierkoalition geworden war. Es ist nicht so überraschend, dass die DP bei genauerem Hinschauen in Gemeinden mit einem hohen Anteil von Arbeitern an der Wählerschaft besser abschnitt als die CSV, die eher als die Partei der Besserverdienenden gewählt wurde (S. 8).Die DP hatte ihre Kampagne voll auf ihren populären Premier konzentriert. Erst in einer späteren Phase grenzte sie ihn von Luc Friedens Versprechen nach Steuererleichterungen für alle ab, damit aber auch von der LSAP, die darin der CSV näher war. Weil im Wahlkampf irgendwie alle Populisten sein müssen, da sie sich sonst dem demokratischen Spiel entziehen, war es für die DP durchaus riskant, Bettel sagen zu lassen: „Ich verspreche nichts.“ Ihn so als verantwortungsbewussten Sachwalter der öffentlichen Finanzen zu empfehlen; zum Glück kritisierte Friedens Trickle-Down-Ideen eine Woche vor den Wahlen sogar der Generaldirektor der Handelskammer öffentlich.
Beruhigend für die DP war auch, dass die LSAP ebenfalls nicht viel versprach und ihre Steuerideen nicht offensiv gegen Bettel in Stellung brachte. „Rote Linien“ für Koalitionsverhandlungen, die 2018 unter Spitzenkandidat Etienne Schneider der Erhalt des Index und der Rentenleistungen sowie hundert Euro netto mehr im Mindestlohn waren, gab Paulette Lenert keine aus. Mit der Arbeitszeitverkürzung sollte lediglich experimentiert werden. Mit Lenert als Spitzenkandidatin war die LSAP ähnlich wie die CSV zu „allem“ bereit, um der nächsten Regierung anzugehören, sagte es nur nicht laut und hoffte, der „Lenert-Effekt“ werde im besten Fall sogar zum Premier-Amt führen – warum nicht in einer Koalition mit der CSV. Politisch war eine Nähe zwischen CSV und LSAP schon 2022 entstanden, als die große Steuerdebatte im Parlament nahte. Und die CSV verzichtete lange darauf, der überragend beliebt gewordenen LSAP-Gesundheitsministerin ihre magere politische Bilanz, abgesehen vom Covid-Krisenmanagement, um die Ohren zu schlagen. Zum Kampfbegriff „sozialistische Planwirtschaft“ griff sie erst dieses Jahr. Lenert steckte das so gut weg, dass sie der CSV noch am Montag Abend versicherte, ihre Partei sei weiterhin „gesprächsoffen und dialogbereit“ für Schwarz-Rot.
Dass die LSAP nach zwei Jahrzehnten an der Regierung in die Opposition muss, hat rechnerisch mit Pech bei der Restsitz-Vergabe zu tun. Abgesehen davon war es wahrscheinlich ein strategischer Fehler, Paulette nationale im Ostbezirk antreten zu lassen, statt im Zentrum. Dass die LSAP im Osten mit 17,29 Prozent der Stimmen ihrem Resultat von 1999 (17,99%) nahekam, wird nur eine Fußnote in der Wahl-Geschichtsschreibung sein: Ein zweiter Sitz im Osten ging als Restsitz an die ADR verloren. Dagegen hätte eine Kandidatur Lenerts im Zentrum nur vielleicht die Wahl-Aussichten anderer LSAP-Kandidat/innen geschmälert, die LSAP aber sicherlich gegenüber Xavier Bettel und Luc Frieden stärken können. Doch derart reizen wollte die LSAP-Führung die beiden anderen potenziellen Koalitionspartner offenbar nicht. Bemerkenswert ist das Resultat der LSAP im Südbezirk: Ihre Süd-Mandatszahl blieb gegenüber 2018 unverändert bei sechs. An Stimmen gewann sie 2,3 Prozentpunkte hinzu. Doch während sie 2018 lediglich in Düdelingen und Rümelingen die bestgewählte Partei war, gelang ihr das am Sonntag auch in Differdingen, Sassenheim, Petingen, Schifflingen und Steinfort. Lokal betrachtet, machte die LSAP mehr Boden gegenüber der CSV gut als die DP. Diese wurde am Sonntag in Echternach, Fels, Mondorf, Schieren und Schüttringen an erster Stelle gewählt. In einer Gemeinde mehr als 2018, doch damals kam sie neben Mondorf auch in der Hauptstadt, in Bartringen und in Strassen auf Rang eins. Am Sonntag ging der jeweils an die CSV.
Wenn am Sonntag die LSAP vor allem als Arbeiterpartei gewählt wurde (siehe ebenfalls die Analyse auf S. 8) und in traditionellen Arbeiterstädten den meisten Zuspruch erhielt, war der Einbruch der Grünen flächendeckend. Und spektakulär: Hatten sie 2018 mit einem Zugewinn von zwei Sitzen mit dann neun Mandaten eine zweite Runde Koalition ohne CSV ermöglicht, verloren sie diesmal ihren Fraktionsstatus und kamen mit vier Sitzen beim Stand von 1989 an. Ihre Minister Henri Kox und Claude Turmes wurden im Osten, beziehungsweise im Norden nicht ins Parlament gewählt. Die Grünen verloren in sämtlichen Gemeinden. Wenn sie laut Faustregel über eine Stammwählerschaft von zehn Prozent verfügen, die vielleicht auf 15 Prozent zugenommen hat, dann müssen sich ihnen am Sonntag auch Stammwähler/innen verweigert haben: Nur in der Hauptstadt, in Schüttringen und Walferdingen errangen Déi Gréng mehr als 13 Prozent der Stimmen. Im Vergleich der größeren Gemeinden lag ihr Resultat nur im Umland der Hauptstadt sowie in Betzdorf und Mersch noch im zweistelligen Prozentbereich. Dagegen brach es in Rümelingen von 10,8 Prozent bei den Wahlen 2018 auf nunmehr 3,97 Prozent ein, in Differdingen von 17,91 auf 4,4 Prozent. Die möglichen Gründe für das Desaster sind vielfältig (S. 9).
Von den kleinen Parteien konnte déi Lénk ihre beiden Kammersitze (je einen im Zentrum und im Süden) über den Wahlsonntag retten. Von den Anti-Establishment-Parteien gelang den Piraten lediglich der Zugewinn eines Sitzes (im Norden). Die Sonndesfro der Ilres hatte ihnen ab Herbst 2021 sechs bis sieben Sitze prophezeit. Das meiste Protest-Potenzial band die ADR an sich: Keine andere Partei errang einen so hohen Listenstimmen-Anteil mit landesweit 79,79 Prozent; vier von fünf ihrer Wähler stimmten sozusagen aus Prinzip für die ADR (S. 10). So kam es, dass die Statistik ihr am frühen Wahlsonntagabend, als nur Listenstimmen veröffentlicht worden waren, sieben Kammersitze zurechnete. Am Ende gewann sie durch einen Restsitz im Osten den Fraktionsstatus zurück, den sie 2006 durch den Parteiaustritt des Abgeordneten Aly Jaerling eingebüßt hatte. An Stimmen legte die ADR am Sonntag um 0,99 Prozent zu. Was ebenso wie das Resultat der CSV kein Ausdruck für einen Rechtsruck in der Gesellschaft ist. Die Kräfteverhältnisse im Parlament nach Sitzen aber haben die politische Linke, wenn man LSAP, déi Lénk und Grüne dazu zählt, auf 17 von 60 Sitzen reduziert. Wie es weitergeht, wird von der neuen Regierungskoalition abhängen. In ihr ist die DP jedenfalls schwächer vertreten als in der Juncker-Polfer-Regierung 1999-2004. Damals hatte die CSV 19 Sitze inne, die DP 15.