ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Der Marsch auf Rom

d'Lëtzebuerger Land du 11.11.2022

Vor kurzem bereiste Premierminister Xavier Bettel mit 38 Firmenvertretern die Emilia-Romagna. Er verlieh der Wirtschaftsmission der Handelskammer protokollarisches Gewicht. Höhepunkt war ein Besuch der Lamborghini-Werke.

Derweil reiste er zu einem offiziellen Besuch nach San Marino. Die Republik ist leicht größer als der Kanton Vianden. Sie wurde als spätantike Christengemeinde gegründet. Noch später wurde sie in den Apenninen vergessen. Nur Briefmarkensammler wissen von ihrer Existenz.

Xavier Bettel reiste weiter nach Rom. Zu einem offiziellen Besuch im Vatikanstaat. Er plauderte mit dem Papst. Er traf dessen Kardinalstaatssekretär. Der Luxemburger Regierungschef war einige hundert Meter vom Palazzo Chigi entfernt. Er machte keinen Höflichkeitsbesuch bei der neuen Regierung. Kein Selfie, keine Antipasti mit Giorgia.

Wie der Zufall so will: An dem Tag jährte sich zum hundertsten Mal der „Marsch auf Rom“. Als Benito Mussolini mit dem Nachtzug nach Rom fuhr. Der König, der Papst, die Armee und die Confindustria erwarteten den Duce. Um ihm die Regierungsmacht zu übertragen.

Inzwischen hat sich der Partito Nazionale Fascista in Fratelli d’Italia umgetauft. Ihre Duca heißt Giorgia Meloni. Die Partei bleibt autoritär und rassistisch, chauvinistisch und protektionistisch. Sie bekämpft die Gewerkschaften. Sie verteidigt das Privateigentum und die christliche Familie.

In Italien wurden die besitzenden Klassen reicher. Sie unterlagen im internationalen Wettbewerb. Die Arbeiterklasse ist besiegt und prekarisiert. Teile des Kleinbürgertums und der Mittelschichten werden ärmer. Die Landwirtschaft schrumpft. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen hat sich verändert.

Die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse sprengen den alten politischen Rahmen. Enttäuschte Mittelschichten wählten den Millionär Silvio Berlusconi, den Clown Beppe Grillo, den Grobian Matteo Salvini, feierten Zentralbanker Mario Draghi. Der Bonapartismus bleibt instabil. Nun versuchen es Mussolinis Enkeln.

Im Februar 2000 gingen die österreichischen Christdemokraten eine Koalition mit der rechtsradikalen FPÖ ein. Die anderen EU-Regierungen, auch die Regierung Juncker/Polfer, gaben sich entsetzt und planten Sanktionen. Das fiele heute niemand mehr ein.

Inzwischen gehören Rechtsextreme zum europäischen Alltag. Sie nehmen an Regierungen teil in Italien, Lettland, Polen, Schweden, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn... Im Europaparlament stellen zwei rechtsextreme Fraktionen 18 Prozent der Abgeordneten.

2010 trat die ADR der Partei der Europäischen Konservativen und Reformer bei. Zu ihr zählen die Fratelli d’Italia, die polnische Pis, die Schweden-Demokraten, die spanische Vox, die Nostalgiker der Waffen-SS „Alles für Lettland!“. Parteipräsidentin ist Giorgia Meloni. Fernand Kartheiser sitzt im Vorstand.

Die Erbinnen des Duce verzichten auf offenen Terror: Die Linke ist verschwunden. Für die ökonomische Gewalt bürgen EU-Technokraten. Die Fratelli d’Italia versprechen keine „autarchia“. Sie unterwerfen sich dem Euro, den Finanzmärkten. „Italien setzt den Draghi-Kurs fort“, freute sich die FAZ am Montag. Als politisches Alleinstellungsmerkmal schüren sie den Hass auf Asylsuchende, Homosexuelle, Raver.

Demokratie in Osteuropa erhöht die Lohnkosten von VW und Auchan. Im Kerneuropa sind der nationalistische Rückzug, der Hass der Schwachen auf noch Schwächere „frais divers“ der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Die EU gewährt Italien 200 Millionen Euro aus dem Fonds Next Generation EU. Damit der deutsche Exportüberschuss und die Zinserhöhungen keine neue Euro-Krise auslösen. Als Gegenleistung schwor Giorgia Meloni auf Maastricht, die Nato und die Ukraine.

Trotzdem knipste Xavier Bettel nicht das erste Selfie mit ihr. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel empfingen sie lächelnd.

Romain Hilgert
© 2024 d’Lëtzebuerger Land