Rentenbericht des WSR: Die Gewerkschaften verteidigen acquis. Die UEL macht einen Vorschlag für Kürzungen, ohne die Rentner zu ärgern

66 Seiten Dissens

Generationen in Luxemburg-Stadt...
Foto: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land vom 02.08.2024

Der Wirtschafts- und Sozialrat ist eigentlich ein Konsensorgan. Mit seiner Tripartite-Besetzung aus Vertreter/innen von Unternehmerverband UEL und den drei großen Gewerkschaften OGBL, LCGB und CGFP, ergänzt um drei hohe Beamte, soll er der Regierung einheitliche und koordinierte Stellungnahmen auch zu Fragen liefern, die zwischen Patronat und Salariat umstritten sind. Bei dem vor zwei Wochen von der WSR-Vollversammlung angenommenen Avis Régime général d’assurance pension hat das nicht geklappt.

Es hatte schon 2018 nicht geklappt. Zwar war damals nicht der WSR um eine Stellungnahme zu den Renten gebeten worden, aber die in einen Groupe des pensions spécifique berufenen Delegierten von Handelskammer und Arbeitnehmerkammer kamen ebenfalls auf keinen grünen Zweig (d’Land, 31.8.2018). Um trotzdem etwas Gemeinsames liefern zu können, ließ der Groupe spécifique in seinem Bericht alle strittigen Fragen weg. Und schrieb, kurz- und mittelfristig sei das System „gesund“, nur langfristig gebe es „potenzielle Risiken“. In den beiden letzten Worten steckte der ganze Dissens, mit seiner politischen Brisanz: Die Handelskammer wollte ausdrücken, dass es Risiken gibt und der Rentenreform von 2012 schnell eine zweite nachgeschoben werden müsse. Die Arbeitnehmerkammer wollte sagen, dass die Risiken nur potenzielle sind, weil vier oder fünf Jahrzehnte im Voraus niemand wissen könne, was sein wird.

Dieselben Positionen stehen heute im Gutachten des Wirtschafts- und Sozialrats. Welches zwei Teile hat, 27 Seiten haben die Gewerkschaften beigesteuert, 39 Seiten die UEL. Letztere schreibt: „Le Groupe patronal est d’avis qu’il faut rapidement et avec ambition adapter le système actuel.“ Und die Gewerkschaften: „Nous rejetons toute dégradation du système solidaire basé sur la répartition et refusons sa privatisation, même partielle.“ Außerdem sei schon die Reform von 2012 zu weit gegangen: Der Mechanismus, der im Reformgesetz von 2012 die Anpassung der bestehenden Renten an die Reallohnentwicklung infrage stellt, müsse weg.

Das sind nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine Reform im Konsens, damit die Regierungsparteien möglichst keinen zu hohen politischen Preis dafür bezahlen. Dass niemand langfristig wissen könne, was kommt, wie die Gewerkschaften sagen, trifft nur zur Hälfte zu. Wie viele Pensionierte es in 40 Jahren geben und was das kosten wird, lässt sich ziemlich genau schätzen – man rechnet dazu die schon bestehenden Berufskarrieren hoch. „Potenziell“ dagegen ist auf lange Sicht vor allem die Zahl der Aktiven, die durch ihre Beiträge die Renten der Pensionierten finanzieren sollen. Im Moment finanziert rund eine halbe Million Aktiver im Privatsektor die Renten von 210 000 Pensionierten. Sind die heute Aktiven pensioniert, wären 1,2 Millionen Aktive nötig, wenn das System bei législation constante bleibt. Horizont 2070 ungefähr – da eine typische Beitragskarriere 40 Jahre dauert, ist ein Blick vier Jahrzehnte nach vorn so gewagt nicht.

Die Frage, ob Luxemburg imstande wäre, mit solch einem Wachstum umzugehen, ist ebenfalls ganz triftig. Eine andere ist, ob so viele zusätzliche Rentenbeitragszahler überhaupt zu haben wären, wenn nicht als Ansässige, dann als Grenzpendler. In einem Europa, wo sich im Grunde allen Ländern die Überalterung ihrer Gesellschaft als Problem stellt und Rechtsradikale Stimmung gegen Einwanderung und für mehr nationale Souveränität machen, lässt diese Frage sich nicht ohne Weiteres mit Ja beantworten.

Naiv-zuversichtlich sind die Gewerkschaften in ihrem Beitrag zum Bericht des WSR nicht, was die Wachstumsaussichten angeht. Doch finden sie, dass es reicht, alle fünf Jahre jeweils zehn Jahre nach vorn zu schauen, ob sich etwas an der Finanzierung der Renten ändern muss. Würde sich ein Problem abzeichnen, würden die Gewerkschaften den Beitragssatz anheben. Oder die im Privatsektor geltende Grenze zur Beitragsbemessung von fünf Mal den Brutto-Mindestlohn abschaffen, ohne im Gegenzug die Rentenleistungen zu erhöhen. Oder eine contribution solidarité einführen oder allgemein Steuern erhöhen. Nicht zu vergessen, dass die Rentenreserve 27 Milliarden Euro schwer ist. Vier Jahre lang könnten daraus Renten bezahlt werden wie 2023, „ohne einen Cent“ an Beiträgen einzunehmen, schreiben die drei Gewerkschaften tapfer.

So wenig neu diese Positionen sind, verteidigen OGBL, LCGB und CGFP damit eine Einheitsfront, noch ehe sie – wie 2011 – offiziell gebildet wurde. Ab 1987 hatten OGBL und LCGB immer wieder politischen Erfolg damit, die Renten im Privatsektor in Richtung von denen im öffentlichen Dienst erhöhen zu lassen. Schlusspunkt war der Rentendësch von 2001 mit einer allgemeinen Rentenerhöhung um fast elf Prozent. Daraufhin fand das ADR, mit dem Schüren von Neid auf Beamtenpensionen ließen sich keine Wahlen mehr gewinnen, und wurde zu der ADR. Heute sitzen OGBL und LCGB politisch ziemlich in einem Boot mit der CGFP. Gemeinsam verteidigen sie acquis aus der langen Wachstumsperiode ab Mitte der Achtziger.

Was der Unternehmerverband will, ist ebenfalls nicht neu: eine Garantie, dass der Beitragssatz bleibt, wie er ist. Ihn zu erhöhen oder neue Steuern als „alternative Einnahmequellen“ einzuführen, wäre für die UEL ein „schlechtes Signal“, an Investoren ebenso wie an international tätige Rekrutierer von „Talenten“. Signalisiert würde, dass Luxemburg ein Land ist, dass es nicht schafft, „seine Probleme zu lösen“. Der Hinweis an die Regierung des früheren Handelskammerpräsidenten, dass offenbar leadership gefragt ist, ist nicht zu übersehen. Rechnet die Gewerkschaftsseite in ihrem Kapitel vor, dass im EU-Vergleich der Anteil der Rentenbeiträge an den Brutto-Lohnkosten nur in Irland, Malta, Rumänien und Litauen noch kleiner ist als die 16 Prozent in Luxemburg, in Schweden und Frankreich dagegen sogar doppelt so groß, kontert die UEL, eben diesen Vorteil im Standortwettbewerb dürfe man nicht aufs Spiel setzen.

Und dann macht die UEL in ihrem Teil des WSR-Berichts ein paar Änderungsvorschläge. Der raffinierteste davon ist eine selektive Rentenkürzung, die mehr weiter ginge als die in der Reform von 2012. Diese hatte dafür gesorgt, dass ab 2013 und über 40 Jahre gestreckt neue Renten nach und nach kleiner werden: um 8,5 Prozent die niedrigen Renten, um fast 15 Prozent die hohen. Im Vorschlag der UEL jetzt würden die kleinen Renten um weitere fünf Prozent sinken, die großen um 28 Prozent. Mit Hilfe der Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) hat die UEL das simuliert: Eine Rente von brutto 3 000 Euro monatlich in diesem Jahr betrüge im Jahr 2052 nur 2 623 Euro. Eine mittlere von 5 000 Euro brutto ginge auf 3 749 Euro zurück, eine von 10 000 Euro auf 6 567 Euro.

Dass CSV-Sozialministerin Martine Deprez und ihren Premier dieser Vorschlag interessieren dürfte, ist durchaus denkbar. Denn er enthält eine zusätzliche Idee: Passte man das System derart an, könne das jährliche ajustement der bereits bestehenden Renten an die Reallohnentwicklung beibehalten werden, schreibt die UEL auf Seite 35 ihres Kapitels im WSR-Bericht. Ein ajustement um ein Prozent jedes Jahr zwischen 2024 und 2052 ergäbe einen „Kaufkraftzuwachs“ um insgesamt 30 Prozent. Tatsächlich kleiner gegenüber den Berechnungsgrundsätzen, wie sie heute gelten, würden dann nur die großen Renten.

Große Renten zu senken, passt natürlich zu dem im Koalitionsvertrag von CSV und DP zwar nicht ganz ausformulierten, aber deutlich genug angedeuteten Vorhaben der Regierung, die Altersvorsorge stärker als bisher in den „zweiten“ und den „dritten Pfeiler“ zu verlagern: betriebliche Zusatzenrenten und private Rentensparverträge. Hinzu aber kommt, dass législation constante im rentenpolitischen Jargon bedeutet, zur „Stellschraube“ im Reformgesetz von 2012 zu greifen, sobald die Beitragseinnahmen der nationalen Pensionskasse CNAP nicht mehr zur Deckung der laufenden Ausgaben reichen: Das ajustement der bestehenden Renten würde dann um mindestens die Hälfte gekürzt oder ganz gestrichen. Die IGSS unterstellt in ihren Projektionen seit 2022, dass es um drei Viertel gekürzt würde. Als Verwaltung und in Simulationen kann sie das annehmen. Es politisch tatsächlich umzusetzen, hieße dagegen, den Rentnern etwas vorzuenthalten, und könnte schwer absehbare Folgen an der Wahlurne haben. Diese Aussicht gefiel keiner der beiden DP-LSAP-Grüne-Regierungen. Zumal im Rentenreformgesetz obendrein steht, dass die Kürzung des ajustement nicht einfach in einer Regierungsratssitzung beschlossen werden kann, sondern ein Spezialgesetz braucht, eine Mini-Rentenreform. Gegen die der OGBL schon 2012 Widerstand angekündigt hatte. Weil die IGSS 2016 schätzte, dass die Rentenausgaben 2023 höher werden könnten als die Beitragseinnahmen, wurde vor sieben Jahre der Groupe spécifique zusammengerufen, der sich 2018 nicht einig wurde. Weil die IGSS 2022 meinte, es werde 2027 so weit sein, beauftragte der damalige LSAP-Sozialminister Claude Haagen den Wirtschafts- und Sozialrat mit einer noch umfassenderen Betrachtung. Gut möglich, dass der CSV-DP-Regierung ein Vorschlag, der die Rentenausgaben senkt, ohne die Rentner zu ärgern, und obendrein die Kürzungen künftiger Renten selektiver macht, wie richtig gute Politkberatung erscheinen. Noch dazu wenn sie von der UEL kommt, die auf S. 12 ihrer Betrachtungen schreibt, das Luxemburger Rentensystem sei „le système le plus généreux du monde“.

Vor dem Hintergrund neuer Schätzungen der IGSS bekommt das noch mehr Gewicht: Vor ein paar Wochen fütterte sie ihre Renten-Simulationsmodelle mit aktualisierten makroökonomischen und demografischen Projektionen des Statec. Das Statec hält langfristig nur 1,7 Prozent BIP-Wachstum im Jahresschnitt für wahrscheinlich, keine 2,75 Prozent wie noch vergangenes Jahr. Mit 1,7 Prozent sei auch nur im besten Fall zu rechnen – sofern die Arbeitsproduktivität im Langfrist-Schnitt um 1,4 Prozent jährlich zunimmt. Statec-Direktor Serge Allegrezza schrieb am 6. Juli auf Facebook: „Finie la peur panique de lacroissance économique sauvage et excessive. Le Luxembourg va subir un développement modéré, aux mieux, ou bien faire du surplace.“ Hoher Produktivitätszuwachs sei übrigens keine Selbstverständlichkeit: „Il faudra de l’investissement et de l’IA à gogo. Et être attrayant pour les talents et les investisseurs. Voilà la nouvelle réalité.“ Für die Renten übersetzte die IGSS die Statec-Projektionen (im untersten Szenario nur 0,2 Prozent BIP-Wachstum im Langfristschnitt), in eine nicht 2047, sondern womöglich drei Jahre früher aufgezehrte Rentenreserve. Solche Betrachtungen und Feststellungen wie die, dass ohne attraktiv zu sein für Investoren und Talente hierzulande das Licht ausgeht, dürften eine Rolle spielen, wenn CSV-Sozialministerin Martine Deprez nach der Rentrée zu „sondieren“ beginnt, wo vielleicht doch ein Renten-Reformkonsens liegen könnte.

Peter Feist
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