Warum die Regierung eine „breite gesellschaftliche Debatte“ über die Renten führen will, erklärte CSV-Sozialministerin Martine Deprez Anfang des Jahres gegenüber dieser Zeitung so: „Ein Rentensystem, das derart von permanentem Wachstum abhängig ist wie unseres, ist nicht gesund.“ Obendrein stecke Luxemburg gegenwärtig in einer Rezession, und durch die Krisen der letzten Zeit, angefangen mit Covid-19, habe das „permanente Wachstum immer wieder infrage“ gestanden (d’Land, 5.1.2024).
Was die Ministerin nicht erwähnte: Es gibt einen gewissen Unterschied zwischen dem Rentensystem im Privatsektor, dem régime général, und den régimes spéciaux für den öffentlichen Sektor. Darauf muss Martine Deprez nicht hinweisen, denn zuständig ist sie nur für den Privé. Doch wenn die Lage dort schon „nicht gesund“ ist, dann könnte man sie im Public mit einem Patienten auf einer Intensivstation vergleichen. Den Rentenausgaben im Privatsektor, die 2022 bei 5,72 Milliarden Euro lagen, standen nicht nur Einnahmen von 6,76 Milliarden gegenüber. Sondern obendrein eine Reserve, die 23,48 Milliarden Euro oder 4,29 Jahresausgaben schwer war. Die Pensionen im öffentlichen Sektor hingegen leben von der Hand im Mund und werden aus der Staatskasse bezuschusst.
Dabei geht es um ziemlich viel Geld. Um wie viel genau, ist nicht leicht zu sagen: Eine zusammenhängende Statistik über die Rentenausgaben in den Spezialregimes für den Staatsdienst, die Gemeinden sowie die CFL für ihre Agenten mit dem staatlich assimilierten „Eisenbahnerstatut“ gibt es nicht. Dem Staatshaushalt für 2023 ist zu entnehmen, dass im vergangenen Jahr für das Ministerium des öffentlichen Dienstes 793,4 Millionen Euro als Dotation für den Fonds de pension eingeplant waren, aus dem die Pensionen der Staatsdiener bezahlt werden.Unter den Ausgaben des Innenministeriums waren 66,28 Millionen Euro, die an die Pensionskasse der Gemeindebeamten gehen sollten, sowie vier Millionen für die Pensionen von Polizisten aus der Zeit, ehe 1999 Polizei und Gendarmerie fusioniert wurden. Beim Mobilitätsministerium schließlich waren 194,77 Millionen Euro als „Kompensation“ für Eisenbahner-Pensionen vorgesehen. Zusammengenommen waren das knapp 1,06 Milliarden Euro Staatsausgaben für die régimes spéciaux. Zum Vergleich: Für den Fiskalanteil an der Pensionskasse CNAP für den Privatsektor standen 2,4 Milliarden im Haushaltsentwurf.
Zu behaupten, dass auch die Pensionen in den Spezialregimes „von permanentem Wachstum“ abhängig sind, ist deshalb nicht abwegig. Hochgerechnet wird der Wachstumszwang alle drei Jahre von der EU-Kommission: In Ageing Reports (der nächste erscheint im Mai) schätzt sie über fünf Jahrzehnte die Ausgaben nach vorn, die den EU-Ländern durch die Alterung ihrer Bevölkerungen entstehen. In Luxemburg kommt immer wieder der Eindruck auf, ein Riesen-Defizit bei der Finanzierung der Renten 2060 oder 2070 hätte nur mit dem Privatsektor zu tun, weil die Rentenreserve der CNAP gegen Ende der 2040-er Jahre aufgezehrt sein werde. Doch das ist falsch: Wenn es auch in den Spezialregimes immer mehr Pensionierte gibt und wenn die Lebenserwartung zunimmt, folgen daraus höhere Staatsausgaben. In der Logik der EU-Kommission ergeben die langfristigen Schätzungen über die Kosten des Älterwerdens ohnehin eine „implizite Staatsschuld“. Und ihre Schätzungen über die Renten erfassen immer alle, nicht nur die im Privatsektor.
2022 hatte die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) simuliert, welchen Anteil an einem für 2070 zu erwartenden Renten-Defizit die Pensionen der régimes spéciaux hätten. Es handelte sich, wohlgemerkt, um eine Simulation, doch ihr Resultat konnte sich sehen lassen: Der Anteil läge bei einem Drittel. Im Jahr 2070 könnten für sämtliche Renten-Regimes die Einnahmen bei 565 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegen, die Ausgaben bei 697 Prozent vom BIP. Was ein Defizit von 132 BIP-Prozent ergibt. Da mit Zahlen von 2019 gerechnet wurde, als das BIP 63,5 Milliarden Euro betrug, entspräche das Defizit insgesamt 83,82 Milliarden Euro. Das Drittel, welches den Pensionen in den Spezialregimes zuzuordnen wäre, betrüge demnach 27,94 Milliarden nach Zahlen von 2019. Zum ungefähren Vergleich: Der Staatshaushaltsentwurf 2019 sah für den Zentralstaat Ausgaben von insgesamt 19,61 Milliarden Euro vor.
Angesichts solcher Zahlen kann man sich wundern, dass die IGSS per Gesetz dazu verpflichtet ist, für das régime général des Privatsektors alle fünf Jahre zu untersuchen, ob in den jeweils kommenden zehn Jahren die Beitragseinnahmen der nationalen Pensionskasse CNAP reichen werden, während mit den Spezialregimes in den Tag hinein gewirtschaftet wird. Im August 2019 hatte der LSAP-Abgeordnete Mars Di Bartolomeo dem damaligen Minister des öffentlichen Dienstes, Marc Hansen (DP), die parlamentarische Anfrage gestellt, ob über die „Tragfähigkeit“ der Pensionen im öffentlichen Dienst eine „vergleichbare versicherungsmathematische Studie“ existiert wie jene, die alle fünf Jahre für die Renten im Privé angefertigt wird. Nein, antwortete Marc Hansen, und das sei auch nicht nötig. Schließlich gälten im régime général und in den régimes spéciaux „dieselben Pensionsrechte, und die Parameter zur Berechnung der Renten sind identisch“. Eine extra Studie für die Pensionen im Public „würde logischerweise zu identischen Schlussfolgerungen führen“.
So sieht das Ministerium des öffentlichen Dienstes das auch heute, wie es dem Land mitteilt: „Die meisten aktiven Staatsbeamten und Staatsangestellten bekommen ihre spätere Pension nach identischen Bedingungen wie im Privatsektor berechnet.“ Zusätzlich studieren müsse man da nichts. Doch ganz so logisch ist das nicht. Einen nicht unwesentlichen Unterschied zwischen Privat- und öffentlichem Sektor gibt es: Rentenversicherte im Privé entrichten maximal auf fünf Mal den Mindestlohn acht Prozent Beitrag von ihrem Bruttogehalt. Aktuell liegt dieses Maximum bei 12 854,64 Euro im Monat. Konsequenterweise gilt auch ein Maximum für die Rente: 10 392,67 Euro sind es derzeit. In den Spezialregimes zahlen die Versicherten ebenfalls acht Prozent auf ihr Bruttogehalt. Doch weder für die Höhe der Beiträge noch die der Renten gibt es Limits.
Der Verteilung der Rentenhöhen im Public und im Privé sieht man das an. Die statistische Serie darüber gehört zu den wenigen Daten, welche die IGSS über die régimes spéciaux veröffentlicht. 2021 lagen in den Spezialregimes 11,7 Prozent der Pensionen von Männern und 5,91 Prozent der Pensionen von Frauen höher als 10 000 Euro im Monat. So weit reicht die Granularität der Statistik für den Privé nicht. Dort hatten 0,06 Prozent der männlichen und 0,01 Prozent der weiblichen Rentner mehr als 8 500 Euro bezogen. Es wirken Unterschiede in den Gehältern, den Karrieren und natürlich die Beitrags-Grenze.
Wäre es angesichts der hohen Renten in den Spezialregimes sogar besonders ratsam zu analysieren, wohin die régimes spéciaux tendieren? Beim Staat wächst die Zahl der Pensionierten rasch. 2021 verwaltete das Centre de gestion du personnel et de l’organisation de l’État (CGPO) im Ministerium des öffentlichen Dienstes 10 615 Staats-Altersrenten. 2027 könnten es 15 250 sein, wie das Ministerium dem Land mitteilt. Das wäre ein Zuwachs um fast 50 Prozent innerhalb von sechs Jahren. Die Ausgaben würden ähnlich zunehmen: Wurde dem Fonds de pension im Staatshaushalt 2021 rund eine Milliarde Euro entnommen (wobei ein kleiner Teil davon nichts mit Altersrenten zu tun hatte), wird für 2027 mit 1,5 Milliarden gerechnet.
Das dürfte so weitergehen, auch weil die Beschäftigungsentwicklung im öffentlichen Dienst gut ist. Im zweiten und dritten Quartal des vergangenen Jahres war sie über alle Branchen Spitze, wie das Statec am 10. Januar schrieb. Daraus entstehen natürlich Rentenansprüche. Zu studieren gebe es dennoch nichts weiter, entgegnet das Ministerium des öffentlichen Dienstes. Selbstverständlich werde für jeden Mehrjahreshaushalt des Staates der Finanzierungsbedarf des Fonds de pension simuliert. Doch der Fonds benötige ohnehin jedes Jahr eine Dotation aus der Staatskasse. Stellt sich heraus, dass sie nicht reicht, müsse halt eine Überschreitung des Budgetartikels angefragt werden.
Das sind ziemlich paradiesische Zustände, verglichen mit dem politischen Druck, „nachhaltiger“ zu werden, den der Unternehmerverband UEL, die Handelskammer und neuerdings die Sozialministerin auf das régime général ausüben. Wozu der Druck führt, macht sich zwar irgendwann auch in den Spezialregimes bemerkbar, die abgesehen von den Maxima bei Beiträgen und Renten seit 1. Januar 1999 den Regeln im Privatsektor angeglichen sind. Doch solange neue Regeln nicht mal regierungsintern spruchreif sind, hält das Ministerium des öffentlichen Dienstes sich aus der Renten-Diskussion heraus. „Bisher sind wir noch nicht im Dialog mit dem Gesundheits- und Sozialministerium über eine Analyse des aktuellen Pensionssystems. Sicherlich aber werden wir noch eingebunden.“
So gelassen kann sich das Ministerium des öffentlichen Dienstes geben, weil es auf den Staatshaushalt als Rentenreserve für seine Pensionierten setzen kann. Wie sich die Ausgaben für sie entwickeln, interessiert am Ende vor allem den Finanzminister. Ganz anders ist die Nachhaltigkeits-Lage der Pensionen im Gemeindesektor. Für CSV-Innenminister Léon Gloden ist sie nicht nur ein finanztechnisches Problem, sondern auch ein politisches: Im Spezialregime der Gemeinden gibt es eine eigene Caisse de prévoyance. Ab 2016 rutschte sie mit ihren Pensionsausgaben immer wieder ins Defizit. Vergangenen Sommer ließ Glodens LSAP-Vorgängerin Taina Bofferding die Beiträge erhöhen, und zwar herzhaft. Finanziert werden die Pensionen der Gemeindebeamten, neben dem üblichen Acht-Prozent-Beitrag auf ein Bruttogehalt, von den Gemeinden als Arbeitgeber sowie drittens aus dem Allgemeinen Dotationsfonds der Gemeinden. Damit die Renten für dieses Jahr nicht in Gefahr gerieten, was im Wahlkampf einen denkbar schlechten Eindruck gemacht hätte, hob Bofferding den Arbeitgeber-Beitragssatz für die Gemeinden von 20,3 auf 28,1 Prozent eines Bruttogehalts an, den Zuschuss-Anteil des Gemeinden-Dotationsfonds von 14,7 auf 20,28 Prozent. Vorläufig für 2024. Der Gemeindeverband Syvicol fand das gar nicht gut.
Im Unterschied zum Ministerium des öffentlichen Dienstes und dem Centre de gestion du personnel et de l’organisation de l’État, was die Staats-Pensionen angeht, stellt der Syvicol sich viele Fragen über die Tragfähigkeit der kommunalen Pensionen. Das Innenministerium stellt sich vermutlich auch welche und ist vielleicht in Kontakt mit dem Sozialministerium. Zwar antwortete das Innenministerium nicht auf eine Anfrage des Land, doch Minister Léon Gloden erklärte am 30. Januar im Parlament, „wenn wir nichts ändern“, gebe es 2027 ein Defizit von 95 Millionen Euro und der Beitragssatz der Gemeinden als Arbeitgeber müsse dann bis auf 30,56 Prozent steigen.
Syvicol-Präsident Emile Eicher hatte am 29. Januar im Wort erklärt, in die Suche nach einer Lösung müsse auch das Sozialministerium „eingebunden“ werden. Gegenüber dem Land präzisiert Eicher, damit meine er „Hilfe mit Projektionen über Einnahmen und Ausgaben“ der kommunalen Caisse de prévoyance. „Wir brauchen unbedingt mehr Transparenz, wir haben nicht genug Daten.“ Interessieren würde ihn zum Beispiel, wie viele Gemeindebeamte es im Übergangsregime gibt – jenem Regime, unter das seit der Pensionsreform im öffentlichen Sektor von 1998 fällt, wer seinen Dienst bei Staat, Gemeinden oder CFL vor dem 1. Januar 1999 antrat. Beamte im Übergangsregime haben Anspruch auf eine „Fünf-Sechstel-Pension“. Auch den Innenminister will Emile Eicher bitten, „bei der Herstellung von Transparenz zu helfen“. Sich dafür einsetzen zu wollen, dass Syvicol-Vertreter in den Verwaltungsrat der Caisse de prévoyance aufgenommen werden, hat Léon Gloden schon zugesagt.
Die Finanzierung der Gemeindepensionen mag ein spezielles Problem sein: Soll noch mehr Geld aus dem kommunalen Dotationsfonds fließen, berührt das die Umverteilung zwischen den Gemeiden, die verschiedenen Interessen von großen und kleinen, Stadt und Land und der Hauptstadt mit dem hohen Gewerbesteueraufkommen noch in besonderem Maße. Taina Bofferdings Vorgänger Dan Kersch hatte die Finanzierung der kommunalen Caisse de prévoyance zu einem Aspekt seiner Gemeindefinanzreform gemacht, die 2017 in Kraft trat. Vielleicht ignorierte er deshalb das erste Defizit bei den kommunalen Beamtenpensionen, das sich 2016 zeigte, und vielleicht unternahm auch Taina Bofferding deshalb erst etwas, als die Lage unhaltbar geworden war. Vergangenen Sommer wollten weder sie noch Dan Kersch sich dazu äußern (d’Land, 16.6.2023).
Dass das kommunale Pensionsregime auf permanentes Wachstum angewiesen ist und weniger Wachstum es empfindlich treffen würde, liegt jedoch auf der Hand. Die Zahl der von der Caisse de prévoyance des Gemeindesektors verwalteten Altersrenten stieg zwischen 2010 und 2022 von 1 629 auf 2 673 um fast zwei Drittel.
Für das dritte régime spécial schließlich, das der CFL, weist die von der IGSS publizierte Statistik einen Rückgang der Altersrenten aus: 2010 waren es 2 362, 2022 nur noch 2 062. Die Frage des Land, woran das liegt und weshalb die „Kompensation“ für die Eisenbahner-Pensionen aus der Staatskasse im Budget des Mobilitätsministeriums laut Mehrjahreshaushalt 2023-2026 dennoch von 194,77 Millionen Euro 2023 auf 211,41 Millionen 2026 zunehmen soll, hatten die CFL nach drei Tagen noch nicht beantwortet. Kann sein, es liegt am Index und an der Anpassung der Renten an die Reallohnentwicklung. Oder die Bahn braucht mehr Versicherungsmathematik.