„Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Thüre. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus deßen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht!“
Nein, es war kein Feuer im Theater ausgebrochen. An diesem 13. Januar 1782 war es, wie ein Augenzeuge mit emphatischen Worten berichtet, das Stück selbst, das bei seiner Uraufführung das Mannheimer Publikum in helle Aufruhr versetzte. Der erst zweiundzwanzigjährige Schiller, der die Vorführung seines genialen Erstlingswerks von einem Logenplatz aus mitverfolgte, hatte in diesem Stück so viel gewagt, so viele Grenzen überschritten und Tabus gebrochen wie kaum ein Dramatiker vor ihm. Die Räuber waren die reinste Zumutung. Nicht genug, dass er mitten auf die Bühne eine mordende und brandschatzende Räuberbande stellte, die mit übelsten Gräueltaten, Vergewaltigung und Zerstörung im großen Stil renommierte. Nicht genug, dass er die bis dahin geltenden Regeln der Dramaturgie einfach in den Wind schlug. Nicht genug schließlich, dass er das Unerhörte unternahm, einen Liebhaber seine Geliebte auf offener Bühne erschießen zu lassen.
Das Stück hatte mehr zu bieten als eine melodramatische Liebesgeschichte, mehr auch als einen ausartenden Familienkonflikt. Über die Individuen hinaus interessierten Schiller die gemeinschaftlichen Bezüge, in denen diese Individuen stehen, das gesellschaftliche System. Anhand der Verstrickungen des ungleichen Brüderpaars Karl und Franz von Moor hielt er seiner Zeit den Spiegel vor, deckte schonungslos die Defizite der Aufklärung auf, ja beanspruchte im Grunde, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären. Einerseits entwarf er mit Franz einen bis heute erstaunlich modern gebliebenen Bösewicht, dessen einseitige Orientierung an der instrumentellen Vernunft ihn zu einem kruden Materialismus verleitet. Andererseits zeigte er an Karl die Gefahren eines übersteigerten Idealismus auf. Die Aufklärung hatte junge Menschen im Sinne ihrer Ideale von Freiheit und Selbstbestimmung erzogen, obwohl die bürgerliche Welt für die Ausübung dieser Ideale noch gar keinen Platz bot. In einer berühmten Szene sitzt Karl mit seinen Kommilitonen in einer Leipziger Kneipe und wettert gegen das „tintenklecksende Säkulum“, das Menschen wie ihn nicht zum Zug kommen lässt.
Nicht zufällig entdeckten die Revolutionäre in Frankreich Schillers Stück alsbald für sich; sie verliehen dem Dichter sogar den Titel eines Ehrenbürgers der neugegründeten Republik. Mit dem, was der junge Regimentsarzt in seinen Räubern wagte, traf er offensichtlich geradewegs den Nerv der Zeit. Vielleicht ist es deswegen so verwunderlich, dass sich die Räuber im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte so oft Fehlinterpretationen und ideologische Vereinnahmungen gefallen lassen mussten. Auch rief das Stück von Anfang an die unterschiedlichsten Reaktionen hervor – von der ekstatischen Aufnahme beim Publikum der Erstaufführung und der unverhohlenen Bewunderung vor allem jüngerer Zeitgenossen Schillers, bis hin zu Entsetzen und Unverständnis in den Reihen der gestandenen Literaten (darunter auch Goethe).
Ausgerechnet dieses provozierende und polarisierende Stück hat sich Marc Baum als Vorlage für sein Stück Die Terroristen ausgesucht, das am heutigen Freitag, den 14. März im Escher Theater uraufgeführt wird. Auf der Grundlage des längst zum mutmaßlich „staubigen“ Klassiker abgewerteten Skandalstücks von einst ist in Zusammenarbeit mit Sven Ruecker der erfrischend vorurteilslose Versuch entstanden, sich, ganz ähnlich wie Schiller, kritisch über die eigene, die gegenwärtige Zeit zu äußern. Dieser Vorsatz erfordert jedoch mehr, als eine aktualisierende Inszenierung Schillers leisten könnte. Die Terroristen sind demnach auch nicht so sehr als Kopie des Schillerschen Dramas zu verstehen, sondern vielmehr als eigenständiges Stück, das mit der klassischen Vorlage in einen Dialog tritt.
Grundstruktur und Figurenkonstellation haben Baum und Ruecker beibehalten, dabei aber mit Rücksicht auf den Gegenwartsbezug neue Akzente gesetzt. Das System, in dem sich die Figuren bewegen, ist ein anderes als bei Schiller. Der „alte Moor“ kann im einundzwanzigsten Jahrhundert kein Landherr mehr sein. An die Stelle des Moorischen Schlosses mit seinen Ländereien tritt deshalb ein Medienimperium, das zunächst vom Vater geleitet und anschließend unter Einsatz unlauterer Methoden von Franz übernommen wird. Wo Schiller die Brüder gegen eine völlig marode, feudalistisch geprägte Vaterwelt anrennen lässt, mussten Ruecker und Baum die ursprünglich schwache Vaterfigur, gemäß des Systems, das sie verkörpert, erheblich stärken. Dieses System der Gegenwart zeichnet sich schließlich gerade durch seine übermächtige Allgegenwart aus, durch die alles und jeden vereinnahmenden Bilderfluten, derer sich sowohl die Machthaber als auch die Dissidenten bedienen müssen. Dies ist das Dilemma des Terroristen, das im Kern des Stücks steht: Er muss sich der Waffen seines Gegners bedienen, muss sich auf das Spiel medialer Vermarktung seiner Position einlassen, um überhaupt eine Wirkung zu erzielen. Damit läuft er gleichzeitig Gefahr, selbst zum Spielball des Medienzirkus zu werden.
Man könnte meinen, durch diesen sehr freien Umgang mit der Vorlage rückten die Terroristen so weit von den Räubern ab, dass sie nur noch einen sehr oberflächlichen Bezug zu Schiller herstellten. Erstaunlicher und bewundernswerter Weise ist das Gegenteil der Fall: Indem er in seiner Interpretation der Räuber vor allem den Konflikt auf der Ebene des gesellschaftlichen Systems hervorstreicht, gelingt Baum eine Anknüpfung an die späteren, im eigentlichen Sinne „klassischen“ Dramen Schillers. Wie das herausragende Individuum zum Spielball der Systeme wird, die es zu kontrollieren glaubt, ist das zentrale Thema von Don Karlos und der Wallenstein-Trilogie. Unvergessen ist der unheimliche und völlig unerwartete Auftritt des Großinquisitors am Ende von Don Karlos, der dem König vor Augen hält, dass dieser, der mächtigste Herrscher der Welt, doch nur in den Fäden eines allmächtigen Kirchenapparats hängt.
Was sich bei Schiller durch die ständigen „Auferstehungen“ des „alten Moor“ nur andeutet, macht Baum explizit: Das Individuum „Vater“ kann sterben, nicht jedoch die Vaterwelt. Das Prinzip der Macht lässt sich nicht ersetzen, wenn auch die Machthaber wechseln. Oder anders: Es gibt kein System außerhalb des Systems.Mit diesem Verdikt muss ein weiterer Aspekt des Schillerschen Dramas eine grundlegende Umdeutung erfahren: die Liebe. Marc Baum wäre nicht der erste, der sich an der Konzeption der Amalia stößt. Schon Schillers Zeitgenossen zeigten sich irritiert von den vorwiegend passiven, gegenüber ihren männlichen Mitspielern irgendwie blutleer wirkenden Frauenfiguren der frühen Dramen. Mit der Versetzung der Handlung in die heutige Zeit muss sich auch Amalia anpassen und mehr Eigeninitiative an den Tag legen als ihre Schillersche Vorgängerin. Damit nicht genug. Die Räuberbande des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist keine reine Männersache mehr: Baum hat Roller und Kosinsky einer Geschlechtsumwandlung unterzogen. Dass sich damit völlig neue Möglichkeiten innerhalb der Figurenkonstellation ergeben, versteht sich von selbst. Die psychologische Darstellung der Bande um Karl von Moor, die bei Schiller relativ homogen gestaltet ist, gewinnt nicht zuletzt durch diese Veränderung an Tiefe und verlangt den Schauspielern sicher weitaus mehr ab als der Mannheimer Truppe von 1782. Jeder der Terroristen hat sein eigenes, individuelles Profil, das gleichzeitig auf eine spezifische ideologische Position verweist.
Auch die Frauen können sich dem System also nicht entziehen, sondern müssen sich entscheiden, welche Rolle sie darin spielen wollen. Die Bedeutung des Verzichts auf die idealische Liebe reicht damit weit über den Zwang der Aktualisierung der Handlung hinaus: Offenbar geht mit diesem Verzicht der letzte – wenn auch noch so schwache – Lichtblick in einer Welt von Egoisten und Selbstdarstellern verloren. Möglicherweise erweist sich das, was die Zuschauer im Escher Theater zu sehen bekommen werden, im Endeffekt als noch radikaler und illusionsloser als das, was Schiller dem Mannheimer Publikum zumutete. Bleibt abzuwarten, wie sie diesmal reagieren.
Der Titel dieses Beitrags heißt übersetzt: „Gegen die Tyrannen“; Motto der berühmten Löwenvignette, die auf dem Titelblatt der zweiten Auflage von Schillers Räubern abgedruckt war.Die Terroristen, basierend auf der Vorlage von Friedrich Schillers Die Räuber; Textfassung: Sven Ruecker und Marc Baum; Regie: Marc Baum; Assistenz: Natalie Ortner; Dramaturgie: Jérôme Netgen; mit: Pitt Simon, Horst Schily, Nora Koenig, Sebastian Wendelin, Julie Michaelis, Nickel Bösenberg, Ines Schiller und Daniel Kamen. Eine Produktion von ILL, Independent Little Lies, Produktionsleitung: Max Lamesch; Bühnenbild: Anouk Schiltz; Licht: Judith Schmit ; Video: Michel Maier; Musik: Emre Sevindik; Kostüme: Katharina Polheim. Premiere am heutigen 14. März, weitere Aufführungen am 15., 16., 18. und 19. März jeweils um 20 Uhr im Escher Theater. Reservierungen unter www.theatre.esch.lu oder über Telefon: 54 03 87 und 54 09 16