1861 hob Zar Alexander II. die Leibeigenschaft in Russland auf. Doch das kam für Anissija zwei Jahre zu spät. Als sie 17 war, hatten ihre Eltern, arme Bauern, irgendwo in einem kleinen russischen Dorf für sie einen Mann gesucht, den sie kaum kannte: Danilo. Anissija liebte einen anderen, doch sie durfte nicht auf ihn warten. Als ihre künftige, bösartige Schwiegermutter die Familie besuchte, um die Hochzeit vorzubereiten, forderte sie: „Ich würde gerne einmal eure Ware sehen!“ Wodka floss in Strömen, der Pope war betrunken, die Gäste feierten tagelang – doch Braut und Bräutigam lagen nur schüchtern im Ehebett nebeneinander. Die Hochzeitsnacht war ein Fiasko.
Hier beginnt die Geschichte der russischen Bauersfrau – eine wahre Geschichte, wie es heißt –, die Tatjana Andrejewna Kusminskaja aufgeschrieben und ihr Schwager Leo Tolstoi überarbeitet und 1886 veröffentlicht hat. 2005 haben die Regisseurin Tina Engel und die Schauspielerin Nikola Weisse eine Bühnenfassung dieses schlichten und ergreifenden, sehr epischen Textes in Zürich uraufgeführt; seither tourt die Produktion durch Europa und gastiert derzeit im Kasemattentheater in Luxemburg.
Anissijas Leben ist unglaublich, ihr Lebensweg von Not und Tod gepflastert: Von fünf Kindern sterben zwei; als die Kinder noch klein sind, wird sie zur Witwe. Dabei gibt es auch immer wieder kurze Glücksmomente. So zum Beispiel, als die Leibeigenschaft aufgehoben wird und die Familie sich ein Stück Land mit einem Hof kaufen kann. Doch der Betrieb bringt kaum Ertrag, Danilo muss mit knurrendem Magen pflügen, das Brot, um das sie beim Nachbarn betteln, ist für die Kinder. Fast könnte sie mit Janis Joplin behaupten: „Freedom’s just another word for nothin’ left to lose“, da treibt die Verzweiflung ihren Mann zu einer Wahnsinnstat: Er stiehlt die Kühe des Gutsherren, wird allerdings gleich verhaftet und nach Sibirien in die Verbannung geschickt – wie rund 19 000 Verurteilte jährlich in Russland zu der Zeit. „Ich hörte auf, andere um Rat zu fragen“, beschließt Anissija in dem Moment und folgt ihrem Mann auf die lange Reise, die er nicht überleben wird. Denn Anissija hat längst gelernt, Danilo zu lieben, weil er nie etwas von ihr gefordert hat.
Nikola Weisse erzählt Anissijas Geschiche in der Ich-Form, indem sie einen großen, schlichten Hochzeitstisch abräumt. Wir erfahren nicht, wer an dem Tag geheiratet hat, doch die Arbeit erlaubt es der alten Frau, wie in einer Choreografie, sehr präzise abzuräumen und dabei in ihren Erinnerungen zu schwelgen. Die Musik, die Beleuchtung, die detailgenaue Dekoration des Tisches, der unglaublich klare Blick der Schauspielerin, ihre Würde, ihre Bescheidenheit, alles trägt zu dieser sehr „russischen“ Stimmung des Stückes bei, zu dieser Melancholie, die man von Tschechow kennt. Doch Anissijas Geschichte ist kein Trauerspiel über Armut. Im Gegenteil: Sie erzählt von der Emanzipation einer Frau – nie hat sich Anissija unterworfen, hat sich nicht begrapschen oder gängeln lassen – und von ihrem Willen, ihre Familie in Würde zu lieben, trotz aller Widrigkeiten. Nikola Weisse ist grandios in dieser Rolle, wie sie, ruhig und selbstsicher, immer wieder die Gefühle aus sich selbst schöpft, mit denen sie Anissijas Leben würdig erzählen kann. Sie bettelt nicht um Mitleid für das Elend dieser Frau, sondern zeigt Anerkennung und Respekt für ihren Mut und ihr Durchhaltevermögen.
Anissijas Geschichte – eine wahre Geschichte, aufgeschrieben von Tatjana A. Kusminskaja, ein Solo-Abend mit Nikola Weisse, Regie: Tina Engel, wird noch am 13., 14. und 15. Februar jeweils um 20 Uhr im Kasemattentheater, 14, rue du Puits in Bonneweg gespielt. Reservierungen über Telefon 291 281 (Anrufbeantworter), Internet: www.kasemattenheater.lu.