Besitzordnung Am vergangenen Freitag demonstrierten Hunderte Schülerinnen und Schüler in der Hauptstadt für eine energischere Klimapolitik. Sie hatten keine andere Wahl, denn sie dürfen nicht wählen. Der Vorschlag einer Senkung des Wahlalters für Jugendliche scheiterte beim Referendum von 2015 kläglich, das Kinderwahlrecht war nie ein Thema.
Wer die gerade eröffnete Ausstellung Wiele wat mir sinn im Geschichts- und Kunstmuseum auf dem Fischmarkt besucht hat, mit ihren Dokumenten und Porträts in großzügig gestalteten Sälen zum Zensuswahlrecht, zum Kampf für das allgemeine Wahlrecht und dessen Sieg von 1919, zu Wahlkampagnen und Wahlprozeduren, zur Abgeordnetenkammer und zu den nicht mehr so neuen sozialen Bewegungen, bekommt beim Verlassen das Churchill-Zitat mit auf den Heimweg, dass „democracy is the worst form of government except for all those other forms“. Die Ausstellung erzählt die anrührende Geschichte vom Aufstieg des Parlamentarismus zur Demokratie.
Im 19. Jahrhundert war die erste Sorge der Großgrundbesitzer, Schmelzherren und Kaufleute, dass niemand ins Parlament kam, der die herrschende Besitzordnung in Frage stellte. Deshalb durften nur jene Männer wählen, die reich genug waren, dass sie jährlich einen gesetzlich festgelegten Mindestbetrag an Steuern zahlten, den Wahlzensus. Um ganz sicher zu gehen, durften die reichen Wähler ihre Abgeordneten bis Mitte des Jahrhunderts nicht einmal direkt wählen, sondern sie wählten aus den Reihen der mindestens doppelt so Reichen die Wahlmänner, die in einer zweiten Stufe die Abgeordneten bestimmten.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren zwischen fünf und 15 Prozent der erwachsenen Staatsbürger wahlberechtigt. Die rechtlich nur eingeschränkt geschäftsfähigen Frauen waren nicht einmal ausdrücklich von den Wahlen ausgeschlossen, aber wenn in der Verfassung und dem Wahlgesetz von „den Luxemburgern“ die Rede ging, wurde es als selbstverständlich empfunden, dass in diesem Fall – anders als im Strafrecht – nur die Männer gemeint waren.
Das allgemeine Wahlrecht wurde in der Revolution von 1848 erstmals gefordert und in der revolutionären Stimmung von 1919 durchgesetzt. Es wurde vergleichsweise spät eingeführt, weil die industrielle Revolution später einsetzte als in anderen Ländern. Kleinbauern von ihrer Scholle in die Fabrik zu zwingen, war ein ökonomisch und juristisch gewalttätiger Akt, bei dem demokratische Institutionen nur störten. Die Forderung nach dem allgemeinen Männerwahlrecht ging von der Arbeiterbewegung aus, die 1848 geboren und im Ersten Weltkrieg erwachsen wurde.
Protestation Am 7. Januar 1848 fand der Echternacher Grenzbote, die erste Zeitung, die sich hierzulande „Socialist“ nannte, noch: „Im heutigen Zustande wäre jedoch der Besitzlose, der Mehrzahl nach, unfähig die Rechte des Wählers oder des Theilnehmers an der Gesetzgebung zu üben, fall’s er sie auch besäße.“ Doch Ende Februar zeigten die Besitzlosen in Paris und danach in ganz Europa, dass sie durchaus fähig waren. Redakteur Mathias Hardt änderte seine Meinung und forderte am 16. März 1848 im Grenzboten die „Befreiung der Volksvertretung von allen Fesseln, d.h. allgemeines Wahlrecht und allgemeine Wählbarkeit“.
Am 11. März begannen die Einwohner von Ettelbruck und danach in mehreren anderen Städten und Dörfern zu rebellieren. Der Rechtsanwalt Karl Theodor André, der sich noch am 4. April in einem Wahlmanifest mit dem Zensus hatte einverstanden erklären können, versuchte am 25. April 1848 zusammen mit den Handwerkermeistern P. Scheidt, Sohn, und G. Codrons sowie den Arbeitern Fr. Beffort, P. J. Merl, P. Schoos und N. Breithof, dem noch „Landstände“ genannten Parlament einen während einer Versammlung drei Tage zuvor beschlossenen „Aufruf an die Arbeiter des Luxemburger Landes“ zu überreichen. Darin verlangten sie: „Jeder großjährige Luxemburger, der dieses Recht nicht durch ein entehrendes Verbrechen verwirkt hat, ist Wähler und wählbar, abgesehen davon, ob er Abgaben bezahlt oder nicht.“
Der Klerus und das katholische Bürgertum unter Anführung des Apostolischen Vikars Johann Theodor Laurent suchten mit der Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht Verbündete im Kampf gegen den von liberalen Notabeln kontrollierten Staat. Ihr Luxemburger Wort druckte an 23. März 1848 in seiner ersten Ausgabe eine „Protestation der Katholiken des Luxemburger Landes“ ab, in der eine „Wahlreform für die Landstände, und Abschaffung des Wahlcensus“ verlangt wurden. Denn „[d]ie große Mehrzahl unserer Bauern, und mit einiger Ausnahme unserer Bürger haben keinen Antheil an ihnen“, an den Wahlen, wie es am 9. April 1848 klagte.
Die Forderung nach der „Abschaffung des Wahlcensus“ und der „Wählbarkeit aller Luxemburger ohne Unterschied des Standes“ war meist an der Spitze der Petitionen, die aus Dutzenden von Gemeinden an den König-Großherzog und die Regierung geschickt wurden. Als das Parlament aber im Juni 1848 die Verfassung und das Wahlgesetz änderten, hatte sich der Sturm gelegt, die Abgeordneten konnten mit großer Mehrheit beschließen, den Wahlzensus nicht abzuschaffen, sondern bloß auf zehn Franken zu senken. Nach dem reaktionären Putsch des König-Großherzogs 1856 wurde der Zensus auf 30 Franken erhöht und das Zweistufenwahlsystem für kurze Zeit wieder eingeführt. Bei der liberaleren Revision von 1868 nutzte das Parlament die Gelegenheit, um den Wahlzensus in der Verfassung zu verankern.
Bei der ersten Maifeier von Arbeitern stand 1890 die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht im Mittelpunkt. Die ersten sozialdemokratischen Politiker organisierten ebenso wie liberale Bürger und Frauenrechtlerinnen Versammlungen, um nach dem Vorbild des Auslands für das allgemeine Wahlrecht zu werben. Der Wahlzensus wurde daraufhin erstmals wieder nennenswert gesenkt, auf 15 Franken, zehn Jahre später dann auf zehn Franken: Die Entfaltung der parlamentarischen Demokratie war endlich wieder dort angekommen, wo sie 65 Jahre zuvor begonnen hatte, bei den zehn Franken von 1848. Die Inflation war im 19. Jahrhundert kein Thema.
Der Ettelbrücker Notar Emile Salentiny lehnte am 18. Mai 1897 im Parlament das allgemeine Wahlrecht ab, weil „la société doit certainement posséder des garanties contre l’envahissement de l’élément prolétaire. Et franchement, de tout temps, on s’est un peu méfié de ceux qui n’ont rien à perdre“. Das Luxemburger Wort wunderte sich am 22. Mai 1902: „Und soll ich Leuten den Steigbügel reichen, die kein Eigentum kennen [...]?“
Filter Doch als am Ende des Ersten Weltkriegs der deutsche Generalmajor Richard Karl von Tessmar abrückte, berichtete die Obermosel-Zeitung unter dem Titel „Revolutionäre Bestrebungen in Luxemburg“ am 12. November 1918, dass „im großen Saale Brosius eine stark besuchte und von den Sozialisten einberufene Versammlung“ stattgefunden hatte, in der ein Arbeiter- und Bauernrat gegründet wurde und neben sozialen Forderungen die „[s]ofortige Einführung des allgemeinen Stimmrechts ohne jede Diskussion durch die Kammer“ sowie die „Abdankung der Großherzogin und Proklamation der luxemburgischen Republik“ verlangt wurden.
Einen Tag später war der Knuedler „schwarz von Menschen. Ihre Zahl kann wohl zwischen 8 000 bis 10 000 geschätzt werden“, so die Volksstimme am 12. November 1918. Sie waren sicher: „die alten Forderungen, wie Achtstundentag, allgemeines Stimmrecht usw. mit ihren großen sozialen Spannungen werden mit einem Schlage erfüllt“. Am 26. November rebellierten 5 000 Escher, stürmten Gebäude und schlugen Schaufenster ein. Im Dezember meuterte die Freiwilligenkompanie, am 9. und 10. Januar 1919 verlangten Tausende vor dem Parlament und auf dem Knuedler die Ausrufung der Republik. Daraufhin schafften am 8. Mai 1919 Klerikale, Sozialdemokraten und Volkspartei gegen die Stimmen der Liberalen den Wahlzensus ab und führten das allgemeine Erwachsenenwahlrecht für Staatsbürger ein.
Mit einem strengen Verhältniswahlrecht erhielt Luxemburg zumindest für die Landeswahlen ein weit demokratischeres Wahlrecht als viele andere Länder, wo ein ausgeprägtes Majorzsystem herrscht. Allerdings wurden nach der Abschaffung des Zensus neue Filter eingebaut, um das Wahlergebnis konservativ zu beeinflussen: Die Wahlpflicht soll unpolitische Wähler zur Stimmabgabe zwingen, weil weniger gemäßigte leichter mobilisierbar sind. Die vier Wahlbezirke sollen die Stimmen konservativer ländlicher Wähler gegen die linken Stimmen in den Industriestädten übergewichten; bis 1956 wurde abwechselnd in nur zwei Bezirken gleichzeitig gewählt, um die politischen Folgen gesellschaftlicher Veränderungen hinauszuzögern.
Das Frauenwahlrecht wurde im internationalen Vergleich so früh eingeführt, weil das Arbeiterwahlrecht so spät eingeführt wurde. Denn die Stimmen konservativer Wählerinnen über Land sollten ein Gegengewicht zu denjengen linker Wähler im Minette darstellen. Das Panaschieren reduziert politische Konflikte auf Personalangelegenheiten, die von dem Juristen und Mathematiker Victor d’Hondt erfundene Sitzberechnung bevorteilt die größten Parteien. Diese Beeinflussung des Wahlergebnisses geht bis heute weiter: 2003 wurde die Zahl der zur Einreichung von Kandidaturen nötigen Unterschriften vervierfacht, um neue Kleinparteien zu entmutigen. 2004 erhöhte die CSV die Altersgrenze der Wahlpflicht, weil ältere Wähler überdurchschnittlich konservativ wählen.
CSV-Staat So wurde 1919 auch das christlich-soziale Jahrhundert begründet, das vielleicht 2013 zu Ende ging. Doch bisher war das Jubiläum der Einführung des allgemeinen Wahlrechts nicht gefeiert worden. An runden Jahrestagen von 1919 wurde lediglich der Einführung des Frauenwahlrechts gedacht. Dass das Parlament nun mit einer aufwändigen Ausstellung, Büchern, Undercover Marketing, Konferenzen, Podiumsdebatten, Vorführungen und Merchandising das allgemeine Wahlrecht feiert, um den Parlamentarismus als nicht zu überbietenden Gipfel der Demokratie darzustellen, ist vielleicht auch eine Reaktion auf das Ende des CSV-Staats, das gescheiterte Referendum von 2015 und die zunehmende Einschränkung der parlamentarischen Befugnisse durch die Exekutive, die Maastricht-Kriterien, das Verfassungsgericht, das Ausnahmerecht und eigenes Effizienzstreben.
Vielleicht auch, weil das 1919 eingeführte Arbeiterwahlrecht wieder abgeschafft wird. Denn durch den Mehrheitsanteil von Grenzpendlern und eingewanderten Erwerbstätigen wurde der Anteil der wahlberechtigten Arbeiter wieder auf das Niveau des Notabelnregimes des 19. Jahrhunderts gesenkt. Aber über das 1919 geschehene eucharistische Wunder schweigt sich die Ausstellung im Nationalmuseum ohnehin aus: Weshalb die während des ganzen 19. Jahrhunderts von den einen erhoffte, von den anderen befürchtete Enteignung der Besitzenden nach der Einführung des Wahlrechts für die Habenichtse ausblieb. Seit 1986 konnte das Parlament die Körperschaftsteuer sogar um mehr als die Hälfte senken.