Leitartikel

Der Kammerpräsident

d'Lëtzebuerger Land vom 12.07.2019

Der Präsident des Parlaments gilt in der protokollarischen Rangordnung des Staats als erster Bürger des Landes. Der Großherzog ist schließlich kein Bürger und, anders als der Kammerpräsident, nicht gewählt. Die herausragende Stellung entspricht der nicht unbedeutenden Rolle, die der Kammerpräsident bei der Wahrung des Ansehens der parlamentarischen Demokratie und damit stabiler politischer Verhältnisse an sich zu spielen hat. Auch wenn das Amt oft als prestigeträchtiges Mittel der Parteien angesehen wird, einen verdienten Minister sachte auf das Ende seiner politischen Laufbahn einzustimmen.

Die ganze Kunst eines Kammerpräsidenten ist es, zwei widersprüchliche Aufgaben zu vereinen. Denn er muss einerseits für einen reibungslosen Ablauf der Parlamentsgeschäfte sorgen, das heißt alle Parteien und Abgeordneten dazu bewegen, sich den nicht immer zu ihrem Vorteil eingerichteten Regeln zu beugen und sich an sie zu halten. Nur so bleibt in der Öffentlichkeit der Glaube an die demokratische Transsubstantiation erhalten, dass es von Vorteil ist, alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konflikte an die 60 Abgeordneten zu delegieren. Nur so bleibt der Eindruck erhalten, dass die Regierung die Staatsgeschäfte harmonisch zu führen weiß. Manchmal wird dieser Eindruck übertrieben, dann findet der Stammtisch, dass alle Politiker unter einer Decke stecken, und die Politiker schimpfen „Populismus“ zurück.

Die nicht minder wichtige Aufgabe des Kammerpräsidenten ist es, die Regierung vor der Opposition zu schützen. Dazu muss er sein ganzes Fingerspitzengefühl, seine Überzeugungskraft und sein taktisches Geschick einsetzen, um stets den Anschein der Überparteilichkeit zu erwecken, wenn er möglichst diskret und unwiderlegbar die inzwischen auf 217 Seiten aufgeblähte parlamentarische Hausordnung ausnutzt, um die Ausdrucksmöglichkeiten der Opposition einzuschränken.

Das machen alle Kammerpräsidenten so (eine einzige Kammerpräsidentin gab es in den letzten 177 Jahren), ganz gleich ob sie zur CSV (neun seit Einführung des allgemeinen Wahlrechts), LSAP (sechs) oder DP (einer) zählen. Je nach ihrem Temperament und der Stärke der Opposition tun die einen das autoritär, die anderen mit gespielter Jovialität. Stets verlassen sie sich darauf, dass zu ihrer Rechten ein Beamte der ihnen unterstellten Parlamentsverwaltung sitzt und ihnen die gerade dienliche Anweisung aus der Hausordnung zuflüstert.

Notgedrungen geht das manchmal schief, gelingt es dem Parlamentspräsidenten nicht, seine zwei widersprüchlichen Aufgaben zu vereinen, für einen harmonischen Ablauf der Parlamentsgeschäfte zu sorgen und gleichzeitig die Opposition kleinzuhalten. So am Dienstag, als die CSV noch einmal die Regierung mit der juristisch unzureichend abgesicherten Zentraldatei der Polizei vorführen wollte. Parlamentspräsident Fernand Etgen (DP) versuchte pflichtbewusst, eine Änderung der Tagesordnung abzublocken. Aber er war sichtlich überfordert und musste verzweifelt improvisieren, bis es ihm mit Unterstützung der DP-, LSAP- und grünen Abgeordneten doch noch gelang.

Wäre da nicht sein noch ungeschickterer Parteikollege Eugène Berger gewesen, der seinerseits eine gerade der CSV verweigerte Änderung der Tagesordnung beantragte. Da verließ die größte Partei des Parlaments zusammen mit der ADR das Plenum, die Linke und die Piraten schlossen sich ihnen etwas ratlos an, die Kammer war nicht mehr beschlussfähig. Schon lange hatte die Opposition nicht mehr die parlamentarischen Spielregeln aufgekündigt, und sei es nur einen Nachmittag lang, und das Plenum unter Protest verlassen. Das Parlament normalisiert sich wieder.

Romain Hilgert
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