Kino

Kongenialität

d'Lëtzebuerger Land vom 09.12.2022

Die bekannte Geschichte um die Kinderbuchfigur des italienischen Autors Carlo Collodi, die Holzpuppe, die ein Junge werden will, wurde unzählige Male adaptiert, in Verfilmungen, Vertonungen, als Theaterinszenierung. Guillermo del Toro’s Pinocchio heißt die aktuelle Ausführung, der Filmtitel steht dabei als Ankündigung und Warnung gleichermaßen. Für die Eigenwilligkeit, die Konsequenz und die Originalität mit der der mexikanische Regisseur die Vorlage nun bearbeitet hat, steht er mit seinen Namen. Auf die wundersame Erzählung über Gehorsam und Moral, die Tugenden, die die Holzpuppe entwickeln soll, um so zu einem echten Jungen aus Fleisch und Blut zu werden, wartet man hier vergebens. Del Toro dient Collodis Vorlage mehr als eine diskursive Basis, ja man möchte fast meinen eine Negativschablone, die er in die Prinzipien der eigenen Arbeit einschreibt – schaurig-schön, subversiv, zeitlos.

Dafür sieht alles zunächst äußerst düster aus: Carlo, der Sohn von Geppetto, einem Tischler in einem kleinen Dorf in Italien, ist tot. Alles scheint verloren. In einem Akt der Anmaßung schafft der Handwerker eine Holzmarionette, die die Leere, die Carlo hinterlassen hat, füllen soll. Diese Einleitung, die an den Prometheus-Komplexes erinnert, erlaubt es del Toro, seine Liebe zum klassischen Horrorfilm der Dreißigerjahre – die Reverenz an Frankenstein (1931) ist unübersehbar – auszuleben, und sie setzt den düsteren und schwermütigen Ton, der die gesamte Erzählung bestimmen soll. Gewiss wäre auch dieser Film nicht von Guillermo del Toro, würde er nicht das Märchenhafte in einen realhistorischen Kriegskontext einbetten. Und darin liegt freilich die gesamte Kongenialität von Guillermo del Toro’s Pinocchio: Das faschistische Italien unter Benito Mussolini ist der Rahmen über den der Mexikaner die Themen der Vater-Sohn-Liebe und des bedingungslosen Gehorsams zunächst umdeutet, dann auf Fragen der Vaterlandstreue, des Glaubens, der Ehre und des Pflichtgefühls erweitert und neu verhandelt. Der moralisierende Impuls der Erzählung, der erhobene Zeigefinger, ist hier grundlegend außer Kraft gesetzt. Im Gegensatz zu ebenso zeitgenössischen aber werkgetreueren Verfilmungen wie die des italienischen Regisseurs Matteo Garrone (2019) oder noch jene von Robert Zemeckis (2022), die Realspielfilmverfilmung des Disney-Zeichentrickklassikers von 1940, wirken da plötzlich seltsam verflacht. Guillermo del Toro’s Pinocchio schreibt sich somit viel besser ein in eine gegenwärtige, komplexe Welt, die wieder stärker von faschistischen Tendenzen und Kriegsausbruch bestimmt wird. Del Toros Pinocchio ist freilich ein ganz aufgeweckter, trotziger, missachtender „Bengel“, der seine Grenzen erlernen muss; del Toro verurteilt ihn dafür aber nicht. So kann der Film erheblich an subversiver Kraft zunehmen und eine komplexere Moralvorstellung entwickeln. Schließlich sind positive Leitbilder auch hier wieder gefragt. Der Regisseur macht sie stark indem er Ungehorsam als Ausdruck der Individualität und Selbstbestimmung zeigt. Diese „korrigierende Lesart“ ist insofern dann auch kaum verwunderlich, zumal der Filmemacher sie bereits für seine revisionistischen Werke The Shape of Water (2017) und letztlich Nightmare Alley (2021) angewandt hat. Der Schwermut, die Trauer und der Schmerz mit der er die Geschichte um den Holzbuben neu auslegt sind denn auch ebenso ausschlaggebend für den Ernst mit der sich del Toro in Zusammenarbeit mit Mark Gustafson der Animationsgattung annimmt. So wie er sich im Filmtitel als gleichberechtigten Bearbeiter der Vorlage aufstellt, so überaus egalitär setzt er die Animationskunst neben die des Realspielfilms ins Recht. Seine Kamera ist in steter Bewegung, seine Lichtsetzungen sind stimmungsvoll eingearbeitet in den feinfühligen Gesamteindruck mit dem die Animatoren – in einem Gestus der Dopplung des Inhalts in der Form – die Holzpuppe Pinocchio, Geppetto oder noch die Grille Jiminy Cricket zum Leben erwecken.

Marc Trappendreher
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