Der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu ist bekannt dafür, dass er in seinen Filmen expressive Gestaltungsmittel einsetzt und somit eine ausdrucksstarke Filmsprache zur Beschreibung existenzieller Psychogramme erkennbar wird. So etwa nutzte er in The Revenant (2016) ausschließlich natürliches Sonnenlicht. Birdman (or the Unexpected Virtue of Ignorance) aus dem Jahr 2014 fand besondere Aufmerksamkeit für seine Kameraarbeit, durch welche die trügerische Annahme rezipiert wurde, alles Gesehene entspräche tatsächlich einer einzigen Plansequenz. Sein neuer Film Bardo, falsa Crónica de unas cuantas verdades setzt in dieser Hinsicht weniger Aufmerksamkeit auf ein spezifisches Stilmittel, ohne dass aber der formal-surrealistischen Wirkungsmacht des Films dadurch Abbruch getan wäre, im Gegenteil. In Bardo manifestiert sich eine stark ausgeprägte kinästhetische Energie, da die Kamera häufig in Bewegung und überwiegend keine Schnittfrequenz bemerkbar ist. So begleiten wir den Journalisten und Dokumentarfilmer Silverio Gama (Daniel Giménez Cacho) ununterbrochen. Der mit seiner Familie schon länger in den Vereinigten Staaten lebende Künstler soll mit einem Preis ausgezeichnet werden, zuvor jedoch steht eine Rückreise nach Mexiko an; er wird als Gast in einer Talkshow erwartet. Die Rückkehr ins Heimatland setzt alte Dämonen wieder frei, löst eine Identitätskrise in Silverio aus, die sein berufliches und privates Selbstbild in Frage stellen. Als Hintergrundfolie für dieses existenzielle Künstlerringen dient Iñarritu das Verhältnis Mexikos zu den USA, das von kolonialer Vergangenheit und Kartell-Gegenwart bestimmt ist. Die Grenzerfahrungen zum Nachbarland der Vereinigten Staaten von Amerika sind in dieser Sinnsuche prägend.
Kaum verwunderlich, dass Bardo thematisch an Birdman anknüpft. Der Regisseur kreist direkt um den Komplex aus Künstlerdasein, Familienwerte und, wie so oft bei Iñárritu, um die große Frage der Sinnhaftigkeit des Lebens, doch mehr noch als in Birdman lässt Bardo autobiografische Schlüsse zu. Es ist offensichtlich, dass Silverio, der unablässig versucht geliebt und anerkannt zu werden, von seiner Tochter, seiner Frau, dem Vater, dem Fernsehmoderator, und der nicht zuletzt darum bemüht ist, sich als ernstzunehmender Künstler bei der Kritik einen Namen zu machen, hier nicht nur als Filmfigur steht, sondern auch der Künstler Iñarritú selbst zu uns spricht. Wohl hat sich Iñárritu in der Konzeption seines neuen Films auf persönliche Erlebnisse gestützt, weist ansonsten aber direkte Bezüge von sich – ungeachtet der äußerlichen Ähnlichkeit zu seinem Protagonisten.
So hochtrabend wie der Filmtitel tönen mag, so unenigmatisch ist er. Bardo steht in der Tradition von Federico Fellinis Otto e mezzo (1963) – einer Künstlerbiografie, die ihren besonderen Reiz gerade aus der Unkenntlichmachung von Wahrheit und Fiktion zieht. Nur: Fellinis Film, ohnehin ein Werk ungemeiner formaler Virtuosität, stellt die großen Sinnfragen und erreicht die inhaltlich-existenzielle Tiefe. Bardo suggeriert sie allenfalls – ein sehr persönliches, tragikomisches Befindlichkeitsporträt, das ob seiner weitverzweigten Zielsetzungen und überbordenden Einfälle kein Werk der dramaturgischen Konzentration ist. Dafür steht allein schon die Öffnung des filmischen Raumes, die im krassen Gegensatz zu Birdman steht. Über die Inszenierung längerer Plansequenzen übertönt Bardo ein Stück weit seine skurrile Künstlichkeit und suggeriert einen Effekt der Unmittelbarkeit, ganz ungeachtet des Umstandes, dass der Film von absurd-surrealen Ereignissen nur so strotzt oder zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Traum- und Wirklichkeitsebenen beständig oszilliert. Freilich gelingt dem Film nie eine tatsächliche Anklage bestehender politischer Verhältnisse, nie ist ein angedeuteter Konflikt wahrlich schlagkräftig inszeniert; das ist im Zuge der Betonung dieses überstrapazierten, surrealistisch- identitären Bilderrausches aber nur folgerichtig.