Charlie hat längst alle Dimensionen gesprengt, wir können die Likes nicht mehr zählen, Charlie ist omnipräsent, Gott mindestens, das globale Maskottchen, das Logo des Westens, besser als Cola. Charlie prangt sogar auf unserer Charlotte.
Wir sind natürlich auch Charlie, aber wer sind wir? Und wer bin ich, bin ich Charlie? Charlie ist tot, und das will ich partout nicht sein, obschon natürlich gleich fromm argumentiert wird, Charlie sei ja unsterblich. Und schon längst ein Symbol. Ein Symbol für alles Edle und Freie, man kann nicht nicht dafür sein. Ich denke aber an etwas, das mir große Angst einjagt. Und an etwas, das ich keinesfalls habe. Mut.
Ich plane sogar schon, okay, ich beichte, eine Burka anzuschaffen. Die werde ich in der Handtasche halten, griffbereit. Für alle Fälle. Eine praktische Notfall-Burka, zum diskret Überstreifen, bevor ich, natürlich nur im Notfall, opportunistisches Allah-Kriegsgeheul anstimme. Ich eigne mich also kaum zur Kämpferin oder zur Heldin, höchstens zur Heldin des Alltags, das ist nicht ganz so riskant.
Aber die Charlies, die jetzt everybody’s Charlie sind, wollten wahrscheinlich auch keine Märtyrer sein. Sie wollten viel lieber Rotwein trinken als heilig gesprochen zu werden, schätze ich mal. Sie wollten vermutlich nicht einmal Charlie sein und nicht im saukalten Pantheon beigesetzt werden, in der gruseligen Grabstätte der Vernunft. Ich weiß nicht, ob sie an etwas glaubten. Zum Beispiel an den Menschen, was viel schwieriger ist als an Gott zu glauben. Oder an nichts, aber an das konsequent.
Oder ob sie nur sich und uns konsequent amüsieren wollten. Was ja schon eine der höchsten Tugenden ist.
Konsequenz hatten sie also, Prinzipien. Mut sowieso, Todesmut. Das habe ich alles nicht, da wäre es ein bisschen vermessen, mich Charlie zu nennen.
Aber dann tue ich es doch. Die anderen tun es ja auch. Wie schön, wir alle Charlies! Eine Charlie-Welt, wie viele Mit-Charlies ich jetzt habe, auch auf dem Bildschirm und auf Facebook. Wir weinen, weil es so traurig ist und so schön, mit unseren Werten. Traurig-schön, wie der deutsche Bundesinnenminister nach der Gedenkveranstaltung in Paris sagte. Tröstlich und sehr erhebend, und die meisten Menschen posten menschliche Kommentare. Wenigstens die meisten, deren Schrift wir lesen können.
Natürlich wird es dann, kaum hat man sich eingereiht in die Front oder den Trauermarsch der Edlen, wieder kompliziert und bröckelig. In der ersten Reihe des wandelnden Bollwerks gegen das Böse befinden sich allerhand berüchtigte Gestalten … hatten sie nicht die Charlie-Ausgaben bevölkert? Aber sie dürfen auch dabei sein, warum nicht, wir diskriminieren niemanden. Und wenn die Ängstlichen und Besorgten sich einen Trauerflor umbinden, um den Angriff auf die Lügenpressefreiheit zu betrauern, ist das ihr Recht, wir leben ja im ...
Aber nein, empören sich jetzt viele Charlies, das geht zu weit, es kann einfach nicht jede eine Charlie sein! Es gibt aber keine Charlie-Aufnahmeprüfung, keine Charlie-Lizenz, niemand kann jemandem das Charlie-Sein absprechen. Nicht einmal die richtigen, überlebenden Charlies, die sich von all den Möchtegern- und Pseudo-Charlies abgrenzen, ja sogar auf sie kotzen. Nur Le Pen Senior behauptet altersstarrsinnig, kein Charlie zu sein.
Obschon Charlie alles ist, erscheint es mittlerweile ungenügend, Charlie zu sein. Ich bin Jüdin und der Polizist Ahmed, und gleich stellt mich eine FB-Freundin zur Rede, warum ich nur der arabischstämmige Polizist und nicht der nichtarabischstämmige bin. Sie wiederum postet einen schönen jungen jüdischen Mann, der im koscheren Supermarkt ermordet wurde, und ich stelle sie zur Rede, warum sie nicht den nicht so schönen, nicht so jungen Mann gepostet hat. Ich werfe ihr Ageismus und Lookismus vor. Jetzt kommen aber auch noch Syrien und Palästina und Nigeria und die Ebolatoten und die Robbenkinder, und alle wollen, dass ich auch sie bin.
Ich fühle mich überfordert, das halte ich nicht mehr lange aus. Ich halte wirklich nicht viel aus. Und so was nennt sich Charlie.