Der Dichter hüstelt ins Mikrofon, er näselt, er säuselt, er zerzaust sein schütteres Haupthaar, während er die selbst geschaffenen Gebilde in den Raum haucht. Er raschelt ein bisschen rum, verhaspelt sich manchmal, dann legt er richtig los. Ach, was wurde er von der Muse geküsst! Es kommt zur Katharsis! Ein ehrfürchtiger Schauer durchfährt die Zuhörerinnenschaft.
Fünf Händepaare tun, was sich gehört, fünfhundert eher selten, die Dichterin verneigt sich vor den geneigten Zuhörerinnen, sie schwebt von der Stätte ihres Wirkens und fällt über ihre eigenen Füße. Macht nichts, sie ist eine Dichterin. Dann taucht sie den Gänsekiel ins Tintenfaß und schreibt schwungvoll eine Widmung. Dann widmet sie sich dem funkelnden Nass, das dargeboten wird.
Das ist eine richtige Dichter_innenlesung. Der arbeitende Mensch darf hinter einem Pult thronen, Lungern ist auch erlaubt. Es gibt ein Podium, nicht nur so ein demokratisches Vakuum, in dem sich der heimatlose Dichter positionieren muss, irgendwie. Ein devotes Wesen führt das werte Publikum in Schaffen und Wirken des vergeistigten Wesens ein. Ein freundliches Wesen füllt die Wasserkaraffe nach, wenn es sein muss. Das Publikum
ist fähig, still zu sitzen und zuzuhören. Wenigstens eine Stunde lang. Es kommt nicht aussschließlich des Weines wegen oder weil ihm eine Espressomaschine versprochen wird oder eine Karibikreise. Oder um vier Gänge zu sich zu nehmen, zwischendurch ein bisschen Dichterin, häppchenweise, bitte nicht zuviel, sonst kriegt es, das Publikum, Verdauungsschwierigkeiten.
Diese Dichter_innenlesungen sind, bis auf ein paar heimelige Inseln, längst ausgestorben. Was gibt es auch Schlimmeres für die Menschheit als eine Lesung? Die Menschheit kriegt ad hoc Panikattacken, Schüttelfröste, Schweißausbrüche. Sie wird von Klaustrophobie und Niesanfällen befallen, dramatisch inkontinent. Vielleicht hört ja der Poet nicht mehr auf mit Aurore und Crépuscule oder mit Kindheitstraumata. Die befreundete Menschheit präsentiert alle möglichen Entschuldigungen, die Dichterin ist erleichtert, wenn die befreundete Menschheit die angekündigte Lesung überlebt, sich nicht selbst ermordet oder Schlimmeres.
Natürlich ist sich die schreibende Zunft mittlerweile schuldbewusst, wie schwer sie an den Mann zu bringen ist. An den ganz besonders. Wenn er nicht selber ein Schriftsteller ist, wird er eher selten anderen lauschen; wenn er einer ist, auch. Die Schriftbestellerin hingegen ist sehr leicht an den Mann zu bringen, jedenfalls solang der Schmelz der Jugend die Kritiker im besten Mannesalter dahinschmelzen lässt.
Das Publikum, sagen die Verlegerinnen und die Veranstaltungsorganisatoren ja andauernd, ist anspruchsvoll geworden. Damit meinen sie nicht, dass das Publikum Oden hören möchte oder etwas Unerhörtes, das es umhaut. Nur dass man es ködern muss, mit irgendwas. Logisch, dass das nicht so einfach ist, die ganze Welt macht dem Schriftbesteller schließlich Konkurrenz.
Obschon die Schriftbestellerin gern den eigenen Nabel herzeigt, um den sie pathetisch pathologisch kreist, ist sie meist ein scheues, vielleicht sogar ein lichtscheues Wesen. Dennoch soll sie mobilisieren, Reinschmeißer organisieren, auf Facebook Likes einheimsen. So lange wenigstens, wie sie nicht auf Short oder Long Lists steht. So lange, wie sie nicht vernünftig wird und Kochbücher schreibt, oder Kasemattenbücher oder Krimis oder Kasemattenkochkrimis.
Der arme autistische Autor lässt sich von sadistischen Kulturveranstaltern quälen. Er soll allerhand Faxen machen, Handstand oder durch brennende Ringe springen. Er soll in einer Zirkustruppe auftreten. Wenn er schon nicht slammt, mit einer arbeiterklassischen Kappe. Oder keine hoffnungsvolle Jungautorin ist.
Allgemein, wir müssen also realistisch sein, ist die, wie heißt das schon wieder, schweres Wort, Literatur, schwer vermittelbar geworden. Nur Komische führen sich so was noch zu, leider. Dabei tun sie ja niemandem was, diese Autoren. Manchmal nerven sie, sie wollen Geld, auch noch, für die paar Buchstaben. Manchmal belästigen sie sogar Kulturministerien. Als hätten die nichts Besseres zu tun.
Film. Oder tote Dichter.