Der türkische Staat müsse den kurdischen Linkspolitiker Selahattin Demirtas freilassen. Das befand vor einer Woche der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Laut EGMR-Richtern habe die türkische Regierung Demirtas nur deshalb so lange inhaftiert, insgesamt zwei Jahre, um die „freie politische Debatte im Land“ einzuschränken.
Demirtas, der im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses in Thrazien sitzt, hatte Beschwerde gegen die Dauer seiner Inhaftierung eingelegt. Denn die Staatsanwaltschaft, die mit der Ausstellung des Haftbefehls sehr fix war, ließ die Sache anschließend einfach ein ganzes Jahr liegen und bereitete keine Klageschrift vor. Seit einem Jahr wird ihm nun der Prozess gemacht – angeblich weil er „Terrorpropaganda betrieben“ habe. Als Beweismittel führt die Anklage lediglich seine Reden vor dem Parlament an. Alle seine Anträge auf Freilassung wurden bisher kurzerhand abgewiesen.
Das Regime in Ankara setzt Demirtas linke Demokratische Partei der Völker (HDP) mit allen Mitteln unter Druck, damit diese daran zerbreche. Nicht nur Demirtas, sondern dutzende weitere Abgeordnete und Parteiführer füllen die türkischen Gefängnisse. Die meisten von ihnen wissen nicht, was ihnen angelastet wird. Die Polizei durchsucht jeden Tag ein anderes Parteibüro, nimmt lokale Aktivisten und Vertreter der Partei fest und lässt sie, wie Demirtas, hinter Gittern verschwinden. Dennoch sitzt die HDP im aktuellen Parlament mit genau so vielen Vertretern wie in der letzten Legislaturperiode. Dass die Partei diesen Druck nicht nur aushält, sondern auch noch ihre Wählerschaft konsolidieren konnte, geht dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Gefolgschaft gehörig auf die Nerven. Denn die HDP verhindert seit Jahren die Wahlsiege der Partei Erdogans in kurdischen Regionen, die sie so dringend bräuchte.
Auch Demirtas hatte im vergangenen Sommer bei der Präsidentschaftswahl erneut kandidiert und aus dem Gefängnis heraus unter strengsten Auflagen mit einem humorvollen Wahlkampf über acht Prozent der Stimmen geholt. Auf diese Kandidatur und die Auflagen gegen Demirtas dreht sich denn auch der zweite Teil des Urteils des EGMR. Die europäischen Richter sehen darin „einen unrechtmäßigen Eingriff in die Meinungsfreiheit“ und erklärten, dass die Regierung in Ankara damit offensichtlich zum Ziel gehabt habe, „den Pluralismus zu ersticken.“
Wie harsch das Urteil des EGMR auch ausgefallen sein mag – Erdogan hat das Urteil nicht aus dem Konzept gebracht. Gleich behauptete er, das Urteil sei für sein Land nicht bindend. „Wir werden unsere Gegenmaßnahmen treffen, dann ist auch das vom Tisch“, sagte er. Wie die Gegenmaßnahmen aussehen, ist inzwischen deutlich geworden. Das Regime und dessen Richter beschleunigten weitere Verfahren gegen Demirtas, um ihn nun mit anderen Vorwürfen vor Gericht zu stellen und in Haft zu behalten. Mit diesem Trick verliert das EGMR-Urteil seine Wirkung. Der ganze Prozess fängt von vorne an. Womöglich war dies eine kalkulierte Havarie und von der türkischen Seite von langer Hand so geplant.
Außerdem hat das Regime für solche Fälle noch einen letzten Trumpf im Ärmel. Verhaftete, die gesetzlich nicht mehr hinter Gitter behalten werden können, werden freigelassen, um direkt vor dem Gefängnistor mit neuen Vorwürfen erneut in Haft genommen zu werden. Mehrere andere politische Gefangene mussten das bereits erleben. Der Wert des Urteils aus Straßburg liegt also eher im symbolischen Bereich. Die türkische Opposition zieht seit längerem vor europäische Gerichte und nutzt Urteile wie dieses, um Kampagnen gegen Erdogan zu initiieren. Umgekehrt nutzen Erdogan und seine Propagandisten solcherlei Urteile für verbale Attacken gegen den Westen, mit denen sie ihre Basis anfeuern.
Die europäischen Richter kennen die Taschenspielertricks des türkischen Regimes. Dennoch wird jeder Fall aus der Türkei mit Ernsthaftigkeit behandelt, unrechtmäßige Entscheidungen türkischer Gerichte werden aufgehoben, obwohl man weiß, dass es den Betroffenen in den meisten Fällen nicht zu ihrem Recht verhilft. Ist also das Bemühen europäischer Gerichte um Rechtstaatlichkeit in der Türkei völlig umsonst?
So lange in Europa keine politische Entschlossenheit besteht, die Türkei für ihre Missachtung der Menschenrechte, die Vernichtung des Rechtsstaates und die Abschaffung der Demokratie zu ächten, sind sie tatsächlich umsonst. Eine klare, kritische Haltung gegenüber der Türkei ist im gegenwärtigen Europa nicht zu finden. Tatsächlich müsste, in Antwort auf die Missachtung des letzten EGMR-Urteils, die Mitgliedschaft Ankaras im Europarat ausgesetzt werden. Doch die Europäer zögern. Einerseits weil sie in der Migrantenkrise weiterhin auf die Unterstützung der Türkei hoffen. Andererseits, weil in Europa mit dem drohenden Rechtsruck niemand mehr sicher ist, wie die politischen Verhältnisse in naher Zukunft aussehen werden. Erdogan hingegen verfolgt in Europa klare Interessen. Er intensiviert die Kontakte zu Ländern wie Ungarn, Polen und Italien und hofft seinerseits, Europa spalten zu können. So lange Europa gegenüber den Missständen in der Türkei die Augen verschließt, werden Straßburger Urteilssprüche wohl weiterhin so wirkungslos verpuffen wie bisher und die europäische Justiz wird sich in Schattenboxen üben.