Plötzlich kam Frühling in die türkisch-europäischen Beziehungen. Diesen Eindruck hätte man zumindest noch vor einigen Wochen gewinnen können. Denn angeblich hatte die Türkei ihre militärischen Abenteuer beendet, wollte sich wieder mit Israel und Ägypten versöhnen. Mit Griechenland begannen Verhandlungen, um die zwischenstaatlichen Probleme zu lösen. Die ist zwar aussichtlos, weil die Gespräche, die bisher nichts gelöst haben, lediglich wiederbelebt wurden. Nicht einmal die Experten sind sich sicher, ob es sich nun um die 62. oder die 72. Runde handelt. Dennoch war das Grund genug für die EU, die Hand Richtung Ankara auszustrecken. Intensive Gespräche auf Arbeitsebene zwischen Brüssel und Ankara folgten.
In der Innenpolitik war jedoch von diesem Frühling nichts zu spüren. Im Gegenteil. Innerhalb von zehn Tagen ging das Regime um Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zum Frontalangriff gegen die ohnehin geschwächte Opposition über. Erst wurde ein kritischer Journalist im helllichten Tag von einem faschistischen Mob in einer Einkaufsmeile zusammengeschlagen. Die türkische Polizei, die bei angeblichen Präsidentenbeleidigungen blitzschnell handelt, schaute tatenlos zu. Erst nach öffentlichen Protesten wurden drei Personen festgenommen. Niemand glaubt, dass sie ernsthaft bestraft werden.
Kurz darauf ging es Schlag auf Schlag. Zunächst beantragte Generalstaatsanwalt Bekir Sahin das Verbot der linksgerichteten zweitgrößten Oppositionspartei, der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Bekir Sahin wirft der HDP vor, Terrorismus zu propagieren. Liefert aber in seinem Antragschreiben keinerlei Beweise dafür.
Am selben Tag beschloss eine Mehrheit, bestehend aus Abgeordneten von Erdogans Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und der faschistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP), dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioglu das Abgeordnetenstatus abzuerkennen. Der Mann wurde kurz darauf in Ankara gewaltsam festgenommen, als er im Gebetsraum des Parlaments betete. Gergerlioglu, ein wertkonservativer Menschenrechtsaktivist, machte sich in den vergangenen Jahren einen Namen, weil er schwere Menschenrechtsverletzungen ans Tageslicht gebracht hat, die er bis ins letzte Detail recherchiert hatte.
Einen Tag später folgte die Ankündigung, die Türkei steige aus der Istanbul-Konvention aus, die die Rechte der Frauen stärken und sie vor Gewalt der Männer schützen soll. Ankara begründete diesen Schritt damit, gewisse Gruppen hätten die Konvention missbraucht, „um Homosexualität zu normalisieren.“ Scharfer Kritik aus dem Ausland, von der EU bis zur UN, begegnete Ankara mit der Behauptung, die Konvention widerspreche türkischen Familienwerten. Frauen-, LGBTI+- und Menschenrechtsorganisationen fürchten nun, diese Entscheidung werde frauenfeindliche und homophobe Tendenzen im Land stärken.
Dann entließ Erdogan den Chef der Zentralbank Naci Agbal, der gerade mal seit viereinhalb Monaten diesen Job machte und seitdem mit seiner Politik im In- und Ausland ein Stück Vertrauen in die türkische Wirtschaft zurückgewinnen konnte. Erdogan ersetzte ihn durch Sahap Kavcioglu, einen kaum bekannten ehemaligen Abgeordneten seiner Partei. Die Finanzwelt reagierte panisch. Die türkische Lira verlor über Nacht 14 Prozentpunkte an Wert.
Der letzte Coup des Regimes war eher symbolischer Natur. Das Amt für Stiftungen erklärte, dass das Eigentum des Gezi-Parks am zentralen Taksim-Platz in Istanbul vom Rathaus des Großraumes Istanbul auf eine Stiftung zurückzuübertragen sei, die vor 500 Jahren gegründet und vor 200 Jahren, im Rahmen der Modernisierung des Osmanischen Reiches, wieder aufgelöst worden war. Damit zwinkert das Regime einerseits den Reichsnostalgikern zu und andererseits jenen Wähler/innen, die ein autoritäres Vorgehen gegen die Opposition befürworten. Denn der Gezi-Park ist das Symbol der Demokratiebewegung des Landes, weil die Massenproteste im Jahr 2013, die diErdogans Regierung ernsthaft ins Wanken brachten, in diesem Park ihren Anfang nahmen.
Inzwischen
geht im Land die Sorge um, Erdogans Regime könnte immer gewalttätiger und undemokratischer werden, ja, es sogar ablehnen, nach einer verlorenen Wahl die Macht abzugeben. Manche Beobachter behaupten, Erdogan sei dabei, ein islamo-faschistisches Regime einzurichten. Die undemokratischen Maßnahmen und de-facto-Abschaffung des Rechtsstaats zwingen die Bevölkerung allmählich dazu, die machthabende islamistisch-nationalistische Elite kritisch zu sehen. Hinzu kommt die anhaltend katastrophale Lage der türkischen Wirtschaft. Inflation und Arbeitslosigkeit sind hoch, die Kaufkraft der Menschen erodiert täglich weiter.
Aus Sorge, es könne die nächste Wahl verlieren, arbeitet das Regime an einem neuen Wahlgesetz, das die Macht der Konservativen sichern soll. Da wahrscheinlich nicht einmal eine Änderung der Spielregeln ausreichen wird, glauben Beobachter/innen, Erdogan möchte außerdem die politischen Gegner ausschalten, die eine Gefahr für sein Machtbasis darstellen könnten – also die HDP, die dieselben Bevölkerungsschichten anspricht wie Erdogans AKP.
Am offiziellen Europa geht das alles vorbei. Im Sommer geplante Sanktionen gegen einige Verantwortlichen in Ankara werden zum zweiten Mal verschoben – bis zum nächsten Sommer. Brüssel überlässt es dem neuen US-Präsidenten Joe Biden, die Beziehungen des Westens zur Türkei zu gestalten. Eine Haltung, die nur damit erklärt werden kann, dass der Westen das Land am Bosporus nur noch aus sicherheitspolitischer Perspektive bewertet, wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Schon damals hatte es den Westen nicht gestört, dass in Ankara autoritäre und teilweise brutale Regierungen herrschten.