Wie die Hochschulrektoren bestimmen werden und wer für ihre Ernennung zuständig ist, sorgt seit Jahrzehnten für aufgeregten Streit in der Türkei. Und die Gesetze, die die Militärdiktatur in den 1980-er Jahren dem Land aufzwang, verkomplizieren die Debatte. 2016 wollte das Regime von Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan einen Schlussstrich ziehen.
Im Oktober 2016 gab er mit einem Erlass bekannt, dass die Rektoren nicht mehr von Hochschullehrern gewählt werden sollen, sondern von ihm, dem Präsidenten. Es war kurz nach dem gescheiterten Putschversuch, im Land herrschte Angst vor weiteren Putschversuchen und eine Hexenjagd hatte eingesetzt gegen jede/n, der oder die das von Erdogan installierte Regime kritisierte. Der Erlass wurde ohne großen Widerspruch im Parlament verabschiedet.
Anfang dieses Jahres stieß Erdogan jedoch auf unerwartet großem Widerstand, als er von diesem Recht, das er sich selbst gab, wieder einmal Gebrauch machen wollte. Er hatte am 1. Januar Professor Melih Bulu zum Rektor der renommierten Bosporus-Universität ernannt. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Zunächst protestierten Hunderte Studierende der Bosporus-Universität gegen Bulu und Erdogans Entscheidung und nannten den ehrgeizigen Professoren einen „Zwangsverwalter“. Sie wurden, wie in den vergangenen Jahren üblich, mit hartem Polizeieinsatz auseinandergetrieben. Noch am selben Abend wurden Dutzende von ihnen in Handschellen abgeführt.
Doch diesmal mündeten staatliche Repressalien in weitere landesweite Proteste, die ebenfalls von der Polizei mit Gewalt, Tränengas und Gummigeschosse niedergeschlagen wurden. Hunderte Studierende wurden festgenommen. Trotzdem verfassten Studierende der Bosporus-Universität einen offenen Brief an Erdogan in dem sie ihn regelrecht herausfordern: „Du bist nicht unser Sultan und wir sind nicht deine Untertanen!“
Nicht nur Studierende in entferntesten Gegenden Anatoliens erklärten sich in unerlaubten Demonstrationen mit ihren Kommiliton/innen solidarisch, sondern auch Lehrkräfte stellten sich in einem seltenen Akt der Solidarität hinter sie. Mehrere Tage protestierten Dozenten auf dem Universitätsgelände gegen die Ernennung Bulus, in der sie einen willkürlichen Eingriff der Politik in Forschung und Lehre sehen.
Zum Teil liegt es auch an der Persönlichkeit, was die Protestierenden gegen Bulu aufbringt. Melih Bulu, ein konservativer Finanzwissenschaftler, der zuletzt Rektor einer privaten Istanbuler Universität war, versuchte mehrmals einen Platz in der Politik zu ergattern. Seine Kandidaturen wurden von Erdogans Partei Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) jedoch stets abgelehnt. Trotzdem blieb er der AKP treu und baute die Parteiorganisation in einem Istanbuler Bezirk auf.
Seine politischen Aktivitäten sind nicht der einzige Grund für die Protestwelle. Als Akademiker steht Bulu im Verdacht, Plagiat betrieben zu haben. In seiner Doktorarbeit befinden sich lange Textstellen, die von anderen Arbeiten kopiert wurden. Bulu weist diese Vorwürfe als Verleumdung weit von sich und behauptet, lediglich die Anführungsstriche vergessen zu haben.
Das Regime und seine Unterstützer reagieren auf die Protestwelle höchst aggressiv. Offenbar ist die Angst sehr groß, die landesweiten Proteste an den Hochschulen könnten die Dimensionen der Gezi-Proteste des Jahres 2013 erreichen. Um das extrem harte Vorgehen der Sicherheitskräfte zu legitimieren, schießen die Vertreter des Regimes aus allen Kanonen. Um die in diesen Tagen von Erdogan, seinem Innenminister Süleyman Soylu oder seinem verdeckten Koalitionspartner Devlet Bahceli, dem Chef der faschistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP), geäußerten Anschuldigungen in einem Satz zusammenzufassen: „Wer demonstriert, sind keine Studierende, sondern Sklaven fremder Ideologien, perverse LGBT+-Terroristen, die sich der türkischen Kultur und Nation entfremdet haben und nun einen Umsturzversuch unternehmen.“
Die zivilen Unterstützer des Regimes gehen einen Schritt weiter. Vor allem in den sozialen Medien, aber auch in den gleichgeschalteten klassischen Medien wird gegen die Demonstrierenden gehetzt und gedroht. Selbst einer der bekanntesten Mafia-Bosse der Türkei und persönlicher Freund des faschistischen Politikers Bahceli, Alaattin Cakici, wandte sich mit einem öffentlichen Brief an Melih Bulu, und bat ihn, nicht nachzugeben, weil die Proteste vom Westen organisiert seien und er kein Recht habe, der „heiligen Allianz“ zu schaden – gemeint ist die Koalition der AKP und MHP, also der Islamisten und Faschisten, die Erdogan an der Macht hält.
Das plötzliche Aufbrausen der Protestwelle bringt die Pläne des Autokraten Erdogan durcheinander. Zuletzt hatte der nämlich demokratische Reformen angekündigt, freilich ohne Einzelheiten zu nennen, und gesagt, die Zeit sei reif für eine neue Verfassung. Nach dem Abgang des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump sucht Erdogan erneut den Schulterschluss mit den USA und der EU. Erst vor drei Wochen hatte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem EU-Außenbeauftragten Joseph Borrell in Brüssel erklärt, sein Land wolle das Migrationsabkommen und die Zollunion mit der EU neu verhandeln. Die Proteste jedoch und das brutale Vorgehen des Staatsapparats könnten diese Wiederannäherung beenden, bevor sie richtig begonnen hat.