Der „Stunk in der LSAP“, vom dem das Tageblatt vergangene Woche „aus gut informierten Kreisen“ erfahren hatte, war auf dem außerordentlichen Kongress am Samstag in Roodt-Syr nur ansatzweise spürbar. Die Sozialisten gaben sich Mühe, geschlossen aufzutreten, der Abgeordnete Georges Engel konnte wegen eines Sterbefalls in der Familie nicht kommen, Fraktionspräsidentin Taina Bofferding hatte es vorgezogen, ihren Lebenspartner auf ein Radrennen in die Alpen zu begleiten. Sie verpassten, wie der nach fünf Jahren aus dem Amt scheidende Generalsekretär und Bürgermeister von Roeser Tom Jungen mahnte, die Partei dürfe sich „net splécke loossen“, bevor er vom Kongress frenetisch gefeiert und mit Lobeshymnen überschüttet wurde. Max Leners, Anwalt, Generalsekretär der Fondation Robert Krieps und Mitglied der Parteileitung, rief dazu auf, interne Differenzen auf der Kongressbühne und nicht im Vorfeld in den Medien auszutragen. Und der Steinseler Hoffnungsträger Olivier Cano, Kommunikationsberater bei der Brunswick Group in Paris und seit Samstag ebenfalls Mitglied der Parteileitung, forderte, Meinungsverschiedenheiten nicht „feig an der Press“ zu diskutieren.
Auf der Kongressbühne wurden am Samstag jedoch kaum Differenzen diskutiert. Selbst im Vorfeld der Kampfabstimmung zwischen dem Fraktionsmitarbeiter und früheren Ko-Präsidenten der Jungsozialisten Amir Vesali und dem Escher Geschichtslehrer Sacha Pulli, der vor einem Jahr die zur DP übergelaufene Gemeinderätin Christine Schweich aus Monnerich als Kassenwart in der Parteiexekutive abgelöst hatte, wurde nicht gleich ersichtlich, um welche Art von Stunk es eigentlich geht. Für beide wäre das Amt ein Trostpreis gewesen, weil sie vergangenes Jahr etwas überraschend nicht zu den Kammerwahlen kandidieren durften, obwohl sie die Voraussetzungen dafür eigentlich erfüllten: Der Handballstar Pulli, dessen Vater schon ein bekannter Handballspieler und später Gemeindebeamter war, wurde im Juni in den Escher Gemeinderat gewählt. Der sechs Jahre jüngere Vesali, der einer vor fast 20 Jahren aus Teheran nach Wiltz geflüchteten Unternehmerfamilie entstammt, war 2018 auf der Nordliste hinter Romain Schneider, Claude Haagen und Carlo Weber Vierter geworden. Während Vesali in seiner Zeit als Präsident des Jugendparlaments von Etienne Schneider rekrutiert wurde, gilt Pulli als Protegé von Dan Kersch.
Es sei „keng Ofstëmmung ee géint den aneren“, beschwichtigte Sacha Pulli, der erst kurz vor Ablauf der Frist seine Gegenkandidatur für das Amt des Generalsekretärs eingereicht hatte, nachdem Parteikoordinator Ben Streff aus dem Ostbezirk es abgelehnt hatte, sich einer Kampfabstimmung zu stellen. Vesalis Bewerbung war schon zwei Wochen zuvor publik geworden (d’Land, 28.6.2024), mit einem Kontrahenten hatte er offenbar nicht mehr gerechnet. Um seiner Kandidatur Nachdruck zu verleihen, hatte er mit zwei Mitstreitern auf den allerletzten Drücker noch eine Resolution verfasst, in der er mehr Basisdemokratie und die Förderung von „Talenten“ im Rahmen einer „LSAP-Akademie“ forderte. Sacha Pulli konnte sich in der geheimen Kampfabstimmung schließlich knapp (mit 57,5 Prozent der Stimmen) gegen Amir Vesali durchsetzen, mutmaßlich vor allem durch die Unterstützung der Delegierten aus dem mächtigen Südbezirk. Amir Vesali wurde jedoch als gewöhnliches Mitglied in die Parteileitung gewählt und nach der Verkündung der Wahlresultate umarmten sich er und Sacha Pulli, sodass der Kongress doch noch ein versöhnliches Ende fand.
Die LSAP feierte sich am Samstag selbst, obwohl sie sich 2023 bei den Gemeindewahlen und den Kammerwahlen lediglich auf historisch niedrigem Niveau stabilisiert hatte. Diese Stagnation war ausschlaggebend dafür, dass Francine Closener im Dezember einen „Durchhänger“ hatte und der Parteileitung mitteilte, nicht mehr für eine weitere Mandatszeit als Ko-Parteipräsidentin zur Verfügung zu stehen. Paulette Lenert und der frühere Arbeitsminister Georges Engel, der bei den Kammerwahlen vor Dan Biancalana im Südbezirk Vierter wurde, erklärten sich daraufhin bereit, den Parteivorsitz gemeinsam zu übernehmen. Dass es Biancalana schließlich gelang, Closener noch umzustimmen, dürfte am Ergebnis der Europawahl gelegen haben, aus der die LSAP tatsächlich als Gewinnerin hervorging. Engel und Lenert zogen ihre Kandidaturen „nach einem klärenden Gespräch“ mit der Parteileitung wieder zurück, allerdings missmutig, wie sich am Stunk im Vorfeld des Kongresses unschwer erkennen ließ. Der Stunk rührte auch daher, dass Biancalana neben seinem Abgeordnetenmandat noch Bürgermeister der Stadt Düdelingen und Closener Schöffin in der Gemeinde Mamer ist, während die beiden Ex-Minister/innen Lenert und Engel kein kommunales Mandat bekleiden, keiner geregelten Arbeit nachgehen und sich im Parlament offensichtlich unterfordert fühlen. Für Biancalana und Closener spricht, dass sie nicht Mitglied der Vorgängerregierung waren, sodass ihre politischen Gegner/innen ihnen nicht vorwerfen können, für die Missstände im Land mitverantwortlich zu sein (Closener war jedoch von 2013 bis 2018 Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium unter Etienne Schneider). Hinsichtlich der zeitlichen Verfügbarkeit wären Engel und Lenert aber vielleicht die besseren Kandidat/innen gewesen, was wohl auch einige Delegierte so sahen, denn bei dem konkurrenzlosen Votum erreichten Francine Closener und Dan Biancalana nur 73,5 beziehungsweise 82,8 Prozent Zustimmung. Bei ihrer ersten Wahl vor zweieinhalb Jahren kamen beide noch auf über 90 Prozent.
Um Inhalte geht es in der LSAP derzeit kaum. Was sich auch daran erkennen ließ, dass am Samstag keine Resolutionen zu aktuellen politischen Themen eingereicht wurden. In ihrer über 30-minütigen Ansprache grenzten die alten und neuen Parteipräsident/innen die LSAP zwar unmissverständlich von rechtsextremen Tendenzen in Europa und Luxemburg ab und kritisierten den rechtsliberalen Ansatz der neuen CSV-DP-Regierung. Allerdings konnten sie nicht vermitteln, was die LSAP dem – außer ihren am Samstag viel beschworenen „Werten“ – konkret entgegenzusetzen hat.
Seit die LSAP in der Opposition ist, versucht sie wieder links zu blinken. Was ihr jedoch häufig noch schwer fällt. Das liegt einerseits daran, dass CSV und DP bislang vor allem Projekte umgesetzt haben, die noch von der Vorgängerregierung ausgearbeitet wurden. Andererseits waren und sind manche Positionen der Sozialisten gar nicht so weit entfernt von denen der neuen Regierung. Im Wohnungsbau etwa sprachen sie sich – entgegen der Pläne des grünen Ministers Henri Kox – schon vor zwei Jahren dafür aus, private Promotoren in den Bau von erschwinglichem Wohnraum einzubeziehen. Deshalb wirkt die Kritik, die Politik von CSV und DP ziele lediglich darauf ab, reiche Investoren noch reicher zu machen, jetzt unglaubwürdig. Dan Kersch und Georges Engel hatten als Arbeitsminister weder das Kollektivvertragsgesetz und das Streikrecht gestärkt, noch konnten sie eine Arbeitszeitverkürzung und die Regelung der Plattformarbeit durchsetzen. Gleiches gilt für ihre Ideen zur Steuerreform, die die DP ablehnte. Den Anstieg der Ungleichheiten konnte die LSAP in 20 Jahren Regierungsbeteiligung nicht verhindern, selbst das Heescheverbuet galt schon in LSAP-geführten Gemeinden, lange bevor Innenminister Léon Gloden das entsprechende Polizeireglement der Stadt Luxemburg genehmigte. Und kurz vor der Vereidigung der neuen Regierung hatte Jean Asselborn sogar einen Aufnahmestopp für Geflüchtete verhängt. Deshalb bleibt der LSAP derzeit nichts weiter als sich auf ihre Werte, das goldene Zeitalter der Sozialdemokratie und emblematische Figuren wie Léon Blum, Robert Krieps und Willy Brandt zu berufen.
Obwohl die Wahlresultate der vergangenen Monate – mit Ausnahme der Europawahlen – eher bescheiden waren, schwimmt die Partei auf einer Welle der Euphorie. „Mär sinn eng éierlech, stoark a selbstbewosst Partei“, sagte Tom Jungen. Sascha Dahm aus der Stadt Luxemburg, der nicht in die Parteileitung gewählt wurde, bezeichnete die LSAP in seiner Bewerbungsansprache als „sexy, gäil, jonk an dynamesch“. Sacha Pulli will die LSAP 2028 wieder dahin zurückführen, „wo wir eigentlich hingehören“. Und Olivier Cano gab gar das Ziel aus, die LSAP zur „Premierspartei“ zu machen. Vielleicht liegt es an den rezenten Wahlerfolgen des Nouveau Front populaire in Frankreich und von Labour in Großbritannien, dass die LSAP Aufwind spürt. Es grenzt aber an Hybris, wenn sie mutmaßt, durch ihr Resultat bei den Europawahlen liege sie auch auf nationaler Ebene gleichauf mit der CSV. In der Kammer hat sie nur halb so viele Sitze wie ihr langjähriger Koalitionspartner. Dass sie nicht erneut Wahlen verlor, sondern leicht hinzugewinnen konnte (1,3 Prozent), haben die Sozialisten vor allem der Popularität ihrer Gesundheitsministerin und Spitzenkandidatin Paulette Lenert zu verdanken, die kein Produkt jahrzehntelanger sozialdemokratischer Nachwuchsförderung ist, sondern 2018 wegen mangelnden Vertrauens in das eigene politische Personal als 50-jährige Quereinsteigerin in die Regierung kam.
Die Parteileitung brüstete sich am Samstag damit, dass die LSAP in den vergangenen 18 Monaten 700 neue Mitglieder rekrutiert habe (wieviele in diesem Zeitraum ausgetreten sind und wieviele es insgesamt sind, wurde nicht mitgeteilt). Zugleich habe die Partei sich erneuert und verjüngt. In der Kammerfraktion wird das bislang jedoch nur bedingt ersichtlich, von den elf Abgeordneten sind nur Liz Braz und Claire Delcourt neu. Zumindest die Parteileitung setzt sich seit Samstag aber größtenteils aus jungen Mitgliedern zusammen. Dass eine Partei im Vorfeld der Kommunalwahlen viele neue Mitglieder rekrutiert, ist an sich nicht ungewöhnlich. Messen lassen muss sie sich daran, wie viele davon in zwei Jahren noch übrig geblieben sind.
Die Jungsozialisten hatten die Parteileitung bei ihrem Kongress im März in der Escher Maison du Peuple daran erinnert, dass die LSAP „déi schaffend Leit“ und nicht das Patronat vertrete. Vergangene Woche sagte Biancalana dem Tageblatt: „Es gibt sicherlich Mitglieder, die mehr links, und andere, die mehr an der Mitte orientiert sind.“ Mit dem Arbeiter-Flügel der LSAP verhält es sich inzwischen aber ähnlich wie mit dem christsozialen der CSV: Er ist kaum noch existent.
Die Kampfabstimmung zwischen dem sozialliberalen Amir Vesali und dem mutmaßlich „linken“ Escher Hoffnungsträger Sacha Pulli wurde nach dem Kongress von den meisten Sozialist/innen demnach auch nicht als Richtungsstreit, sondern als Ausdruck einer gesunden Debattenkultur und als Zeichen von persönlichem Engagement gedeutet. Weshalb Francine Closener und Dan Biancalana unbedingt weitermachen wollten, darüber wird parteiintern viel spekuliert. Manche vermuten, dass sie im Hinblick auf die Kammerwahlen von 2028 möglichst lange sichtbar bleiben wollen; andere rechnen ihnen an, dass sie die Reformen und die Erneuerung der Partei, die sie angestoßen haben, zu Ende führen wollen.
Die letzte Kampfabstimmung in der LSAP hatte es im Jahr 2000 gegeben, als Alex Bodry Jean Asselborn um den Parteivorsitz herausforderte und auch John Lorent seine Kandidatur stellte. Asselborn konnte sich am Ende behaupten. Im Jahr davor war die LSAP von 17 auf 13 Sitze gefallen und musste in die Opposition, die CSV ging eine Koalition mit der DP ein. 2004 verlor die DP fünf Sitze, ohne dass die LSAP sich wesentlich erholte. Auf einem sehr bewegten außerordentlichen Kongress stimmten die Delegierten nach langen Diskussionen zwischen dem gewerkschaftsnahen und dem sozialliberalen Flügel (vornehmlich um die Finanzierung der sogenannten „Mammerent“) mehrheitlich für eine Koalition mit der wesentlich stärkeren CSV. Seitdem erreichte die LSAP nie wieder mehr als 13 Sitze. Heute feiert sie, wenn sie auf elf kommt.