Fassungslos Als Steffi im vergangenen Oktober das Escher Bürgeramt aufsuchte, dachte sie, es handle sich lediglich um eine Kleinigkeit. Eine bürokratische Formsache. Sie war vor kurzem in ein Einfamilienhaus in der Rue de Schifflange eingezogen. Eine alte Maison de Maître mit Jugendstilornamenten, die von der industriellen Vergangenheit der Stadt zeugt. In der Wohngemeinschaft leben fünf Personen im Alter zwischen 25 und 35 Jahren. Angestellte im Kommunikations- und Kulturbereich, keine Studenten. Sie alle teilen sich das Einfamilienhaus, weil sie diese Form des Zusammenlebens schätzen. Weil sie den urbanen Charme von Esch mögen jenseits von spießigen Schlafgemeinden. Und weil es deutlich erschwinglicher ist als eine Wohnung oder ein Eigenheim.
Doch Steffis Traum vom Leben in der Wohngemeinschaft sollte vorerst in einem Büro des Hôtel de Ville in Esch enden. Ihr Antrag wurde abgelehnt. Begründung: Der neue Bebauungsplan (PAG) erlaube keine Wohngemeinschaft in einem Einfamilienhaus. Steffi war entsetzt. Wie konnte das sein? Nur wenige Wochen zuvor hatte sich ihr Freund Thierry ebenfalls neu registrieren lassen. Außerdem besteht die WG schon seit vier Jahren. Komplikationen oder etwaige Informationen zu einem WG-Verbot gab es nie. „Ich konnte es nicht fassen.“ Doch auch ein Anruf der zuständigen Beamtin bei einem Vorgesetzten änderte nichts an der Situation: Steffi konnte sich nicht als Bürgerin der Stadt Esch anmelden.
Sie blieb jedoch hartnäckig, kehrte wenig später ein zweites Mal bewaffnet mit einem Arsenal an Argumenten zum Hôtel de Ville zurück, fest entschlossen, das Bürgeramt nicht ohne Registrierung zu verlassen. Diesmal mit Erfolg. Die zuständige Beamtin ließ sich überzeugen, gab aber zu verstehen, dass die WG in der Rue de Schifflange prinzipiell vor einem Problem stehe.
Shitstorm Steffi ist kein Einzelfall. So wie der jungen Frau ergeht es geraden vielen in Esch. Benoît Majerus, Historiker an der Universität Luxemburg, hat vergangene Woche in den sozialen Medien für Aufregung gesorgt, nachdem er den Fall einer Doktorandin publik gemacht hat, die ebenfalls abgewiesen wurde. Die Doktorandin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, spricht von einer „demütigenden Erfahrung“. Ihr Antrag wurde ebenfalls mit Verweis auf den neuen Bebauungsplan abgelehnt. Sie könne nicht in ein Einfamilienhaus eines Kollegen einziehen, so die Erklärung des Beamten. Nur wenn sie offiziell angeben würde, mit dem Kollegen in einer Beziehung zu sein, hätte ihr Antrag Chancen auf eine Genehmigung.
„Die Stadt Esch geht gerade einen verrückten Sonderweg“, sagt Gary Diderich (Déi Lénk). Der Politiker versucht seit Anfang des Jahres mit seiner gemeinnützigen Organisation Life zwei Wohngemeinschaften in Esch auf dem Gaalgebierg und an der Place Stalingrad zu gründen. Vergeblich. Auch Diderich wird mit Verweis auf den neuen Bebauungsplan abgespeist. Auf einen Termin mit Bürgermeister Georges Mischo (CSV) oder dem zuständigen Schöffen Martin Kox (Grüne) wartet er seither vergebens.
Blut und Sex Tatsächlich hat die Stadt Esch im März 2019 einen neuen Bebauungsplan verabschiedet. Wie alle anderen Gemeinden in Luxemburg war Esch gesetzlich dazu verpflichtet, bis November 2019 die urbanistische Vorstellung der kommenden Jahre den Bürger/innen und dem Innenministerium vorzustellen. Der PAG-Prozess ist komplex und äußerst technisch und zieht sich gerne über mehrere Jahre. Die Stadt Esch legte im März 2019 ihren Plan vor, die Bürger hatten 30 Tage Zeit, um Einwände zu erheben, das Innenministerium erstellte ein Gutachten. Und aufgrund von Corona-Verzögerungen soll es nun am 3. Juli zur zweiten rechtsgültigen Abstimmung kommen. Während dieser Übergangsphase sind laut Innenministerium beide, der alte und der neue, PAG rechtlich bindend.
Die Krux des Escher Plans, die derzeit für so viel Aufregung sorgt, liegt dabei im Detail: Die Stadt hat insbesondere in den Vierteln Aal Esch, Brill und Uecht hunderte Gebäude als Einfamilienhäuser herausgewiesen. So weit, so üblich. Allerdings hat sie in einer Annexe das Einfamilienhaus als Wohneinheit definiert, die lediglich von einer „Communauté domestique“ bezogen werden kann. Dabei handelt es sich laut Stadt Esch um eine Gruppe von Menschen, die miteinander verwandt oder verschwägert sind, oder um Partner mit einem sogenannten „lien affectif.“ Auf Nachfrage, was man unter „lien affectif“ verstehen soll, sagt Bürgermeister Mischo: „Wann ee mat engem geet.“ Das heißt salopp ausgedrückt: Wohngemeinschaften in Esch sind nur möglich, wenn die Menschen verwandt sind oder miteinander Geschlechtsverkehr haben.
Unglaube Ausnahmslos alle befragten Juristen und Politiker unterschiedlicher Couleur halten dieses restriktive Vorgehen der Stadt Esch für problematisch. Manche führen wie Politiker Steve Faltz (LSAP) oder Abgeordneter und Gemeinderat Marc Baum (Déi Lénk) gesellschaftspolitische Bedenken an. „Eine Stadt kann doch nicht darüber entscheiden, wer mit wem zusammenleben darf“, so Baum. Allein der Gedanke daran sei „geradezu grotesk“ und erinnere an vormoderne christliche Zeiten. Das beruhe nicht nur auf einer überkommenen Sitten- und Moralvorstellung, sondern sei diskriminierend. Zudem stelle es hunderte Menschen, die aktuell in Wohngemeinschaften leben, vor große Probleme.
Die Anwälte Max Leners (LSAP), Frank Wies und François Moyse führen hingegen unabhängig voneinander schwerwiegende juristische Bedenken an und halten das Vorgehen der Stadt Esch für illegal. Moyse vertrat 2018 einen Mandanten in einem Fall gegen die Gemeinde Monnerich. Sein Mandant wollte eine Wohngemeinschaften gründen, die Gemeinde ihm jedoch keine Genehmigung dafür erteilen. Das Verwaltungsgericht gab Moyse und seinem Mandanten recht und hielt im Urteil fest, dass eine Gemeinde grundsätzlich keine Wohngemeinschaft verbieten könne. Moyse ist nicht mit allen Details des Bebauungsplans in Esch vertraut, hegt jedoch starke Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Plans. „Ein Bürgermeister kann keine Genehmigung für eine Wohngemeinschaft erteilen, das steht ihm nicht zu.“ Laut neuem Gesetz von Dezember 2019 hat der Besitzer lediglich bei der Gemeinde zu erklären, wer im Gebäude lebt. Nicht mehr, nicht weniger.
Für geradezu haarsträubend hält Moyse die Escher Definition einer „Communauté domestique“ für Einfamilienhäuser. Das Beziehungsverhältnis von Personen könne kein Kriterium sein, um zu entscheiden, wer in Einfamilienhäusern leben darf oder nicht. Jeder dürfe selbst entscheiden, mit wem er zusammenleben will. Und natürlich könne auch jeder Bürger einen Studierenden oder Flüchtling beherbergen. Er findet es „schlimm“, dass der neue PAG von Esch das verbiete.
Anarchie in Esch Trotz dieser massiven Kritik hält Bürgermeister Mischo an seinem Bebauungsplan fest. „Wir wollen Wohngemeinschaften nicht verbieten, sondern regeln“, sagt Mischo. Es gehe ihm darum, die Einfamilienhäuser zu schützen. „Wa mir net esou streng reglementéieren, dann herrscht hei an Esch Anarchie“, so Mischo. Er habe rund fünfzig Immobilienträger auf der Matte stehen, die nur darauf warten, die Einfamilienhäuser in Esch in Wohngemeinschaften oder ähnliches zu verwandeln. Das führe zu einer Zerstücklung, zu einem Anstieg von Preisen und fördere das Problem der Cafézimmer und der sozialen Verelendung. Kurz: Sein restriktiver Plan ist als soziale Maßnahme gedacht.
Was Mischo jedoch offenkundig nicht weiß oder ignoriert: Das Gesetz über die Critères de salubrité, d’hygiène, de sécurité et d’habitabilité des logements wurde genau zu diesem Zweck am 20. Dezember 2019 im Parlament verabschiedet: Es definiert die Mindestgröße eines Zimmer pro Person (neun Quadratmeter), die Minimalausstattung und Mindestgröße einer Küche, die Kriterien für Belüftung, Beleuchtung und Beheizung der Wohnungen und Häuser sowie die Vorschriften für Bad und Fluchtwege. Das Ziel des Gesetzes war explizit, ein Instrument zu schaffen, um gegen die Cafézimmer und Bruchbudenvermieter sowie soziale Missstände vorzugehen. Es überrascht hingegen, dass Mischo mit den Details des Gesetzes nicht vertraut ist, da er es als CSV-Abgeordneter mitverabschiedet hat.
Bürgerlicher Masterplan Vertreter von LSAP und Déi Lénk misstrauen deshalb der Argumentation von Mischo. Marc Baum glaubt vielmehr, dass es darum geht, die Bevölkerungsstruktur von Esch langfristig zu verändern. Die einfachen Schichten sollen „aus der Stadt geworfen“ werden, nur noch Bürger mit Kaufkraft sollen sich die Einfamilienhäuser leisten können. „Damit bekämpft man keine Armut, sondern Arme.“
Tatsächlich gesteht auch Mischo, dass es ihm darum geht, in Zukunft Bürger mit Kaufkraft nach Esch zu ziehen. Er wolle auf keinen Fall noch mehr zerstückelte Einfamilienhäuser oder soziale Bebauungen im Zentrum. Ein defacto WG-Verbot in der Universitätsstadt und zukünftigen Kulturhauptstadt Esch hält er hingegen nicht für problematisch. Immerhin könnten Studenten doch WGs in Appartements gründen. Denn für Appartements gilt die Bestimmung der Communauté domestique nicht. Zudem führt er ein Beispiel in der Rue Robert Schuman an, wo Bürger sich mittels Petition gegen eine Studenten-WG in ihrer Nachbarschaft wehrten. Mischo spricht vom klassischen Nimby-Phänomen. Alle wollen eine Universitätsstadt, niemand will Studenten als Nachbarn.
Laut Vertretern von linken Parteien sind es diese gutbürgerlichen Familien, auf die Mischo abzielt. Es handelt sich um seine Wähler, denen der CSV-Politiker im Wahlkampf versprochen hat, Esch zu gentrifizieren, attraktiv zu gestalten und die Arbeiterstadt hinter sich zu lassen. Oder wie es der Koalitionspartner DP im Wahlkampf formulierte: „Esch op den Niveau setzen“. Und die Grünen? Der zuständige Schöffe Martin Kox, Bruder von Wohnungsbauminister Henri Kox, wollte sich zum Thema nicht äußern.
Nachspiel Nach der ersten Runde der PAG-Abstimmung haben bei der Stadt Esch 92 Personen Einwände eingereicht. Das klingt nach einer hohen Zahl, ist jedoch bei rund 36 000 Einwohnern eher überschaubar. Zum Vergleich: In der wesentlich kleineren Gemeinde Kehlen gab es 120 Einwände gegen den PAG-Entwurf. Laut Land-Informationen haben allerdings gleich mehrere Bürger in ihren Einwänden das Problem der Einfamilienhäuser angeprangert. Auf allzu viel Verständnis sollen sie jedoch nicht getroffen sein. „Wir sind auf Granit gestoßen“, sagt eine Person. Dennoch ist es gut möglich, dass es noch zu Änderungen kommen wird. Bürgermeister Mischo sagt etwa gegenüber dem Land, dass er die Formulierung „Lien affectif“ für etwas veraltet hält und kündigt an, dass immerhin ein Student pro 100 Quadratmeter aufgenommen werden kann. Der Jurist Max Leners glaubt dagegen, dass das WG-Verbot vollends kippen wird.
Die WG in der Rue de Schifflange ist jedenfalls bereit, den Kampf anzunehmen. „Wir werden das Haus sicher nicht verlassen.“