Remich ringt mit seinem Image als Perle der Mosel. Trotzdem zieht es an Wochenenden immer noch Tausende Touristen auf die Esplanade. Eine Reportage

Boardwalk Empire

Menschen auf der Esplanade in Remich
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 05.06.2020

Der Weg zur Esplanade führt über Brasi-
lien. Autos stauen sich an der steilen Route de l’Europe hoch bis zu den Tankstellen. Sie warten auf ein kurzes grünes Zeitfenster. Der Klang von Dieselmotoren, Klimaanlagen und Lady Gaga schallt durch die stickige Hitze, die vom Asphalt aufsteigt. Als die Ampel unten an der Kreuzung bereits wieder auf Rot springt, haben die Fahrer auf Höhe der Tankstellen die Bremse noch nicht einmal gelöst. Der Umweg über das einstige Quartier Brasilien in Remich erscheint als beste Option. Es ist benannt nach gescheiterten und verarmten Rückkehrern, die im 19. Jahrhundert vergeblich ihr Glück in Südamerika suchten. Zu einer Zeit, als Luxemburg ein Auswandererland war.

Chillen und Grillen Die Wiese zwischen Bech-Kleinmacher und der Esplanade in Remich ist frisch gemäht. Es riecht nach gegrilltem Fleisch, Grillanzünder und Schischa-Pfeife. Drei italienische Männer drängen sich auf den Vordersitz eines Audi Cabrios. Ein Mann mit Tattoos und freiem Oberkörper skippt am Autoradio, bis Una volta ancora von Fred de Palma erklingt. Er blickt nickend und wippend mit dem Zeigefinger hinüber zu seinen Bekannten. Sie sitzen in einem ovalen Kreis auf weißen Plastikstühlen. Und klatschen.

Unweit davon setzt ein junger Mann zum Wurf an. Er hält ein Tischtennisball in seiner rechten Hand über seiner Schulter und starrt auf einen der vielen Becher am anderen Ende der Tischtennisplatte. Sie sind zur Hälfte gefüllt mit Bier. Mit Corona. Eine Maske trägt er nicht. So wie niemand an diesem Pfingstmontag in Remich. Der Mann verfehlt sein Ziel. Aber der nächste Versuch steht schon an.

„Nein, nicht zu weit!“, ruft eine Frau. Sie blickt zu ihren Kindern. Drei halbnackte Jungs stehen mit den Füßen in der Mosel, bestaunen zunächst einen Tanker, dann ein rasendes Jetski auf dem Fluss. „Das Wasser ist schmutzig“, sagt Anna und fügt ein unsicheres „oder?“ hinterher. Sie lebt seit drei Jahren in Düdelingen und stammt ursprünglich aus Krakau. „Sehr schön hier. Es erinnert mich ein wenig an die polnische Ostseeküste“, sagt Anna. „Nur schade, dass man nicht schwimmen darf.“

Nur wenige Meter weiter beginnt die eigentliche Esplanade: eine rund anderthalb kilometerlange Asphaltpromenade, entlang des Moselufers, vorbei an der einstigen Festungsmauer der Stadt Remich. Die Esplanade gilt in Luxemburg als Institution. Als Ort, der lange Zeit bei manchen touristische Sehnsüchte weckte, wenn auch nur für Sonntagnachmittage. Hier flanierte schon König-Großherzog Wilhelm III., während einer seiner seltenen Luxemburgreisen im 19. Jahrhundert, hier ließ sich Edmond de la Fontaine (Dicks) für seine Gedichte inspirieren und hierhin zog und zieht es an Wochenenden und Feiertagen tausende Menschen aus der gesamten Großregion. Als „Luxemburger Côte d’Azur“ hat der verstorbene Bürgermeister Jeannot Belling (DP) Remich wegen seiner Flaniermeile getauft, als Florida Luxemburgs bezeichneten es andere wegen der hohen Seniorendichte und als „Perle der Mosel“ vermarktet Remich sich seit Jahren selbst.

Verfall Doch vom einstigen Glanz der Perle ist nicht mehr viel geblieben. Die Betonpromenade erstickt in den Abgasen des Durchgangsverkehrs und versinkt jährlich im Hochwasser. Japanische Kirschbäume aus den 1960-er Jahren mussten vor kurzem abgeholzt werden und die Geschäftswelt verödet. Räumungsverkauf steht in großen Lettern im Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts in der Maacher Gaas, „Bistrot bientôt à louer“ steht auf einem Schild wenige Meter daneben. In der Maacher Gaas befinden sich neben zwei Juwelierläden noch ein Frisör, mehrere asiatische Restaurants, ein Thai-Massagestudio und ein CBD-Shop, in dem man Hanfprodukte aller Art kaufen kann.

„Wir können froh sein, dass wir noch einen
Cactus haben“, sagt Brigitte Muller. Die blonde Frau, geschätzt Ende 50, lebt seit ihrer Kindheit in Remich. Sie steht vor der Mosella-Bäckerei an der Place du Marché und zeigt auf ein Restaurant gegenüber. Dort befand sich das Traditionshaus Maison Gretsch, das nach über 125 Jahren 2011 schließen musste. „Bei Gretschen hues de ëmmer alles kritt“, so Muller. „Mee et geet d’Bach erof mat Réimech. Elo muss ech esouguer mam Hond bei de Veterinär op Maacher“, die Frau schüttelt den Kopf. „Op Maacher!“

Just in diesem Moment geht ein Mann mit Glatze und FFP2-Mundschutz vorbei. „Moien.“ Gruß mit tiefer Stimme. Muller grüßt zurück. Sie lehnt sich nach vorne, flüstert gegen ihre Handfläche: „Dat ass dee mam Mupp.“ Daniel Frères, Lokalpolitiker und Immobilienhändler, hat sich in Remich ein kleines Reich aufgebaut, seine Agentur grenzt an den Quai de la Moselle und an die Maacher Gaass. Seine Werbeplakate sind nicht zu übersehen und erinnern an Billboards des dubiosen Anwalts Saul Goodman aus der Serie Better Call Saul.

Die Stadt versucht seit Jahren, die Esplanade auf Vordermann zu bringen: Hochwasserschutz, Dreißiger-Zone, Fahrradweg, Parkplätze, Umgehungsstraße und die Anhebung des Kais für Schiffe. Ideen und Pläne gibt es viele, sie reichen bis zum Beginn des Jahrhunderts zurück. Bis heute ist jedoch rein gar nichts geschehen. Behörden, Planer und Gemeinde blockieren sich gegenseitig. Daran konnte bis jetzt auch Bürgermeister Jacques Sitz (DP) nichts ändern, der mit großen Esplanade-Versprechen Henri Kox (Grüne) aus dem Amt drängte.

Corona war gestern Trotz dieses Verfalls ist die Esplanade weiterhin als Wochenendziel für Tagestouristen anziehend. Am Pfingstwochenende haben Restaurants und Freizeitattraktionen erstmals seit dem Corona-Lockdown geöffnet. Und wer gedacht hätte, die Menschen würden aus Angst vor Keimen und Ansteckung sich zurückhalten, wird eines Besseren belehrt: Minigolf und Minicars sind bestens besucht. Und vor dem Einlaufen grüßt das Flusskreuzfahrtschiff Roude Léiw mit lautem Hupen. Die Menschen auf dem Bootsdeck winken den Flaneuren auf der Promenade zu.

Nur zwei tragen Mundschutz.

Die Frittüre Weyler hat Sonderschichten eingeführt. Es ist 16 Uhr, die Sonne drückt, es ist der bisher wärmste Tag im Jahr. Aber die Menschen wollen trotzdem Grillwurst, Hamburger und Pommes mit Ketchup und Majo. Und Bifana – das neue Kotelett. Eine Radfahrerin beschwert sich, dass das Personal keine Handschuhe benutzt. Ihre Grillwurst nimmt sie trotzdem.

Gleich daneben befindet sich die Bäckerei von Claude Feltz. Seit 40 Jahren werden hier süße Backwaren verkauft, der dazugehörige Salon de Thé gibt es seit rund dreißig Jahren. „Klar waren das schwierige Wochen“, sagt Rachel. Die Frau mit Kurzhaarschnitt arbeitet seit zehn Jahren in der Bäckerei. „Die Kunden blieben zuhause, die Terrasse musste geschlossen bleiben.“ Aber sie habe ein gutes Gefühl, dass die Verluste sich bis zum Ende des Jahres in Grenzen halten werden.

Dragan, Besitzer des Restaurants Quai 14, sieht das weniger optimistisch. „C’est la catstrophe“, sagt der Mann, während er eine Cola öffnet und sie einem Kellner reicht. Er habe viel Geld verloren und durch die neuen Restriktionen könne er nur 60 anstelle von 120 Kunden auf seiner Terrasse bedienen. „Wie soll ich meine Gehälter zahlen?“, fragt Dragan, der den Blick nicht von seiner Terrasse abwendet. Und ihn beunruhige vor allem das Verhalten der Menschen: „Niemand trägt eine Maske, niemand ist vorsichtig. Als wäre Corona vorbei“, so Dragan und eilt zum nächsten Kunden.

Fouerambiente Menschen mit Tattoos, Harley-Davidson-Shirts oder Fußballtrikots von FC Porto drücken sich durch den engen Weg zwischen Restaurantterrassen und Gebäuden. Junge Eltern mit Kinderwagen, Kinder mit Waffeleis und Zuckerwatte. Ein Mann verkauft Luftballons geformt zu Barbiepuppen, Biene-Maja-Figuren oder Polizeiautos. Ein Junge springt von links nach rechts und überzeugt seine Mutter, ihm einen Heliumballon zu kaufen. Der Junge entscheidet sich für einen Motorrad-Luftballon. Er lacht, die Mutter schmunzelt und der Mann steckt die zehn Euro ein. Innerhalb von dreißig Minuten wird er zwölf Luftballons verkaufen. Ein anderer Mann spielt Akkordeon und kämpft gegen die Lautsprecherboxen des Restaurants Marco Polo. Sangria ist im Sonderangebot für sechs Euro, gleich daneben in einem Universalladen gibt es Pyjamas für zehn Euro.

Der Spielplatz ist geschlossen. Aber das Karussell dreht sich wieder. Es wird von Shadi Veena betrieben. Seit zehn Jahren unterhält sie das Fahrgeschäft mit ihrem Mann. Insgesamt besitzen beide fünf Fahrgeschäfte. Sie leben in Frankreich. „Wir sind erleichtert, dass wir wieder öffnen dürfen. Und dass so viele Menschen hier sind.“ Sie zeigt auf den Desinfektionsmittelspender gleich am Eingang des Karussells. Nach jeder Runde mache sie sauber: „Sicher ist sicher.“ Sightseeing in Luxembourg steht auf einem Miniaturbus des Karussells, ein Kind hat sich hingegen für das Pferdchen entschieden. Im Hintergrund läuft Panama von Van Halen.

Für die Fahrgeschäftbetreiberin wiegt jedoch schwerer, dass die Schobermesse in diesem Jahr ausfallen wird. „Das ist eigentlich unsere Haupteinnahmequelle im Jahr“, so Shadi Veena. „Aber wir werden es schon durchstehen.“ Sie läutet zur nächsten Runde ein.

Ausharren Blaue Augen, blaues Hemd, blauer Mundschutz – Henri Feidt hat sich modisch auf die Krise eingestellt. Aber auch sein Betrieb, das Hôtel-Restaurant de l’Esplanade ist gerade bestens gerüstet. Neue Abstände, Plexiglasabtrennungen, durch Pfeile gekennzeichneter Weg und Desinfektionsmittel: „Wissen Sie, wir haben jedes Jahr Hochwasser, da kommen wir auch mit Corona klar“, so Feidt. Der Unternehmer hat vor vierzig Jahren das Hotel übernommen. Im Alter von 22 Jahren hat der gebürtige Petinger das Gebäude gekauft – „natürlich mit der Unterstützung meiner Eltern.“ Das Hotel war nach der Sprengung der Brücke durch die abrückende Wehrmacht am Ende des Zweiten Weltkriegs fast zerstört worden. Der Druck der Explosionswelle hat die Fassade in Stücke gerissen. Aber es wurde später wiederaufgebaut und gehört seither zum festen Inventar der Esplanade.

Feidt neigt nicht zu Trübsal. „Wer an der Esplanade ein Unternehmen sauber führt, sollte nicht in Schwierigkeiten geraten“, so Feidt. Auch wenn die Promenade gealtert sei, ziehe sie noch immer viele Besucher an. Es sei wünschenswert, wenn die Pläne zur Neugestaltung endlich umgesetzt würden, aber er kommt auch ohne klar. „Was bleibt mir sonst übrig?“ Er glaubt, dass das Problem des Hochwassers sich eh nicht lösen lasse, da das Wasser sich im Zweifel seinen Weg durch die Abwasserkanäle nach oben suche. „Wer so nahe am Wasser lebt wie wir, muss einfach mit Hochwasser leben.“ Seinen Jahresumsatz sieht er durch Corona nicht in Gefahr: „Wenn ab jetzt alles so weiterläuft, sollte es sich bis zum Ende des Jahres rechnen.“

Auf der Mosel kämpfen drei junge Menschen gegen die Strömung und die Wellen der Schiffe an: Sie üben sich im Stand Up Paddling, eine Wassersportart, die erst seit kurzem zur hippen Trendsportart wurde. Doch was in YoutubeVideos oder auf Instagram lässig aussieht, wird an der Perle der Mosel zur Qual: Eine Frau schafft es noch geradeso, sich an ihr Brett zu klammern, um nicht ins Wasser zu stürzen. Nach wenigen Minuten geben auch ihre beiden Mitstreiter auf.

Die Schwäne schenken der Szenerie keine Beachtung. Sie lassen sich von Menschen an der Promenade füttern. Am Ufer steht ein Schild, dass Füttern verboten sei. Aber das ist ihnen egal. Man will sich doch nicht alles verbieten lassen.

Pol Schock
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