Brexit und kein Ende

Im Namen des Volkes

d'Lëtzebuerger Land vom 06.09.2019

Zugegeben: Es fällt schwer, mit den Ereignissen in London Schritt zu halten. Der britische Premier Boris Johnson will den No-Deal-Brexit, den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ohne einen Vertrag, mit eiserner Faust durchpeitschen. Dazu schickte er zunächst das Parlament in eine verlängerte Pause, dann schloss er diejenigen Tory-Mitglieder aus der Fraktion aus, die sich gegen ihn gewandt haben. Nun möchte er Neuwahlen abhalten lassen, doch dazu braucht er eine Zweidrittel-Mehrheit im Londoner Unterhaus. Doch dort hat er seit Dienstag nicht mal mehr eine Regierungsmehrheit.

Boris Johnson ist für die Europäer kein ernstzunehmender Verhandlungspartner mehr. Vordergründig. Hintergründig stehen alle Zeichen gleichwohl auf den No-Deal-Brexit. Auch wenn das Parlament ein entsprechendes Gesetz verabschiedet hat, dass ein vertragsloser Austritt vermieden und die Frist für den Brexit erneut verlängert werden soll. Was jetzt jedoch noch der Zustimmung der EU als Vertragspartner bedarf. Hier zeigt sich Bundeskanzlerin Angela Merkel gerne konziliant; der französische Premierminister Emanuel Macron eher mit harter Kante.

Was bleibt also übrig von einer Woche, in der Großbritannien durch seine Zukunft taumelt und Italien eine neue Regierung bekommt: Parlamente können populistischen Politikern durchaus einen Riegel vorschieben. Denn in dieser Woche bekamen zwei Männer eine Lektion in Sachen Demokratie erteilt: Boris Johnson in London, der mal eben die parlamentarische Demokratie aushebeln wollte, und Matteo Salvini in Rom, der sich in gnadenloser Selbstüberschätzung einfach nur verzockt hat. Beide haben versucht, die aus ihren Ämtern erwachsene Macht und Möglichkeiten für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen.

Doch ihr Durchmarsch, dem sie gerne das Etikett „Im Namen des Volkes“ anheften, stößt auf den Widerstand parlamentarischer Mehrheiten. Hüben wie drüben. So wollte Johnson das britische Parlament vor sich her durch den Brexit nach seinem Gusto treiben, doch die Abgeordneten zeigen ihm nun den Weg auf. Bis zur nächsten Volte des Premierministers mit anschließender Revolte des Parlaments. Johnson wird noch manchen Taschenspielertrick in der Hinterhand haben.

In Italien ist der Machtpoker zwischen der rechtspopulistischen Lega von Salvini und den übrigen Parteien hingegen erst einmal entschieden. Salvini ließ die Koalition in Rom platzen, da er glaubte, auf diese Weise den Weg zu Neuwahlen zu ebnen, die ihn in das Amt des Ministerpräsidenten hieven sollten. Wahlprognosen legten diesen Schluss nahe. Stattdessen hat der Lega-Vorsitzende sich selbst und seine Partei ins Aus manövriert, da sich seine politischen Gegner doch noch zusammenrauften.

Doch dies ist längst kein Indiz dafür, dass das Pendel des Populismus in Europa wieder zurückschwingt – wie die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen am vergangenen Sonntag zeigten. Denn auch wenn Volkstribune wie Johnson und Salvini im parlamentarischen System ihre Grenzen aufgezeigt bekommen, müssen sie noch nicht zwangsläufig auch bei ihren Wählern entzaubert sein. Bei den Europawahlen im Mai bekam keine Partei in Italien mehr Stimmen als die Lega. In Großbritannien lag damals eine Partei vorn, die den Bruch mit der EU mindestens so hart und radikal vollziehen will wie die Hardliner um Boris Johnson – die Brexit-Partei von Nigel Farage – und in den beiden ostdeutschen Bundesländern zeigte sich, dass populistische Parteien ihre Wähler motivieren können.

Dass die Sprüche von selbsternannten Anti-System-Politikern wie Johnson, Salvini und Gauland nach wie vor verfangen, hat viele Gründe – angefangen bei der allgemeinen Genervtheit zahlreicher Briten, doch endlich ein Ende der inzwischen seit über drei Jahren andauernden Brexit-Scheidung sehen zu wollen, bis hin zu Nationalismus und Xenophobie, die sich leicht schüren lassen. In Großbritannien spielen allerdings auch die sozialen Plattformen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ob auf Facebook oder Twitter: Hier wird das Ringen um den Brexit auf absurde Weise zugespitzt. Dabei wird polarisiert und den Lesern suggeriert, dass es lediglich eine Wahl zwischen einem EU-Ausstieg auf Biegen und Brechen oder einem Verbleib in der Europäischen Union gebe. Moderate Stimmen, die Alternativen aufzeigen oder die Bestandteile des mit Brüssel ausgehandelten Brexit-Vertrags aufschlüsseln, finden sich kaum.

In einem Punkt hat Boris Johnson allerdings Recht: Er hält einen weiteren Aufschub beim Brexit für sinnlos. Zwar unterschlägt der britische Premier dabei, dass die Abwendung eines katastrophalen No-Deal-Szenarios am 31. Oktober alles andere als sinnlos wäre. Doch es drängt sich auch die Frage auf, wie es den britischen Politikern im Rahmen der neuen Frist – etwa bis Ende Januar nächsten Jahres – noch gelingen soll, die gegenseitige Blockade zwischen den „Leave“- und „Remain“-Lagern zu überwinden.

Es ist durchaus möglich, dass die von Johnson angestrebten Neuwahlen die andauernde Selbstlähmung des Unterhauses aufheben wird. Aber dies ist keinesfalls ein Automatismus bei einer Neuwahl. Inzwischen sind nicht nur die Briten Brexit-müde, sondern auch zahlreiche Menschen auf dem Kontinent. Dies darf aber hier wie dort keinesfalls in ein bloßes Abwinken enden, dem sprichwörtlichen Ende mit Schrecken, denn dem Schrecken ohne Ende. Auch dies kann durchaus eine Taktik von Boris Johnson sein, der das Volk so lange weichkochen möchte, bis es ihm bedingungslos folgt.

Martin Theobald
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