ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Nukleares Feuer

d'Lëtzebuerger Land vom 18.11.2022

Vergangene Woche heulten die Sirenen auf den Kirchtürmen und Rathäusern. Auf den Handys leuchteten Alarmbotschaften auf. Ein Test für „une catastrophe naturelle, un accident industriel ou un attentat“. So das Staats- und das Innenministerium am 29. April.

Tags darauf begann das Parlament über die Außenpolitik zu diskutieren. Im Mittelpunkt der Debatten stand der Ukraine-Krieg. Den Abgeordneten erging es wie den Sirenen: Sie wagten nicht, an das Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen zu denken.

Am 9. August kündigte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski an: Der Krieg müsse „mit der Krim enden, mit ihrer Befreiung“. Russland zählt die Krim und den Donbas zu seinem Territorium. In einer Ansprache drohte Präsident Wladimir Putin am 21. September: Russland verteidige seine „territoriale Integrität“. Dazu werde es „alle Mittel einsetzen, die uns zur Verfügung stehen“.

Am 14. Oktober kündigte die Nato in einer Pressemitteilung an: „[D]es forces aériennes des pays de l’OTAN testeront des capacités de dissuasion nucléaire [...]. Participent à l’exercice Steadfast Noon 14 pays et pas moins de 60 aéronefs.“ Die Übungen für den Abwurf von Atombomben wurden aus dem belgischen Kleine Brogel befehligt.

In Kleine Brogel besetzte die grüne Europaabgeordnete Tilly Metz im Februar 2019 die Startbahn. Sie warnte: „Die USA und Russland spielen mit dem nuklearen Feuer.“

Der Ukraine-Krieg wurde zum Stellvertreterkrieg zweier Atommächte. Eine Eskalation, ein Missverständnis, eine technische Panne können zum Einsatz von Atomwaffen führen. Der ehemalige Clinton-Berater Matthew Bunn schätzt die Wahrscheinlichkeit auf zehn bis 20 Prozent (National Public Radio, 4.10.22). Ex-US-Verteidigungsminister Leon Panetta meint 20 bis 25 Prozent (Politico, 12.10.22).

Außenminister Jean Asselborn beruhigte das Parlament: „Um Terrain“ deute nichts auf die Aktivierung russischer Atomwaffen hin. Wir dürften uns „net dovunner verschotere loossen“ und aufhören, „d’Ukrain ze ënnerstëtzen“.

Wir dürfen Atomreaktoren fürchten, nicht Atomkriege. Sonst leidet die Kampfmoral der Bevölkerung. Wir sind im Wirtschaftskrieg mit dem russischen Ennemi. Die Moral wird mit Zuschüssen für Erdgas und Holzpellets gefestigt.

Der Schweizer Historiker Daniele Ganser schätzte im Wort (5.11.22): Wenn die Ukraine „ein bisschen kleiner und Russland ein bisschen größer” werde, sei das besser als ein Atomkrieg. Der Abgeordneten Stéphanie Empain blieb „d’Loft ewech“. Der Verteidigungsminister François Bausch war „schockiert“ (Wort, 14.11.22).

Die grünen Politiker überspielen das Risiko einer atomaren Eskalation. Die Logik von Präventivschlag, massiver Vergeltung, Zweitschlagkapazität und Overkill. Sie führt die Logik ihrer heroischen Parolen ad absurdum: Lieber eine verstrahlte Krim als eine russische?

In den Lignes directrices de la défense luxembourgeoise à l’horizon 2025 et au-delà geht keine Rede von einer atomaren Bedrohung. Sie übersteigt die Vorstellungskraft der Armee. 1955 ließ die Regierung Faltblätter Comment survivre? drucken mit „sechs Mittel[n] zum Überleben von Atomwaffenangriffen“. 1958 Plakate Strahlungsregen. Schutzmaßnahmen. Seit 2014 gibt es eine Broschüre Que faire en cas d’alerte nucléaire? Sie beschränkt sich auf einen Unfall in Cattenom.

Taktische Atomwaffen übertreffen die Sprengkraft der Bombe von Hiroshima. Ihre Radioaktivität bedroht in einem weiten Umkreis die Gesundheit, die Umwelt, das Klima. Ihr Einsatz geschähe in der gleichen Entfernung von Luxemburg wie das Reaktorunglück von Tschernobyl.

Die Atomwaffenlager von Büchel, Nörvenich und Ramstein sind 80 Kilometer von Luxemburg entfernt, die von Kleine Brogel und Volkel nicht viel weiter. Beim Einsatz strategischer Atomwaffen sind sie erste Angriffsziele.

Atomwaffen sind kein Reaktorunglück. Der Schutz der Bevölkerung ist nicht wirklich vorgesehen. Im Rathaus liegen noch Iodtabletten.

Romain Hilgert
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