Zuerst waren es die Eigenheime. „Wie sich die Mittelschicht in Zukunft noch ein Eigenheim leisten kann, bleibt das Geheimnis dieser Regierung.“ Wunderte sich der Hesperinger CSV-Bürgermeister Marc Lies (Wort, 2.2.2019).
Dann die Mietwohnungen. Im Mai 2020 meldete die Stiftung Idea „des tensions importantes sur le marché de la location, également pour les classes moyennes“ (Décryptage N° 10).
Nun sind es die Lebenshaltungskosten. Weil „déi Präissdeierecht, déi op de Liewensmëttel ass, déi op den héiche Spritpräisser ass, bis wäit an d’Mëttelschicht eraschléit“. So CSV-Fraktionssprecher Gilles Roth am 5. Juli bei RTL. Die CGFP klagte am 25. August in einer Presseerklärung: Es „geraten inzwischen nicht nur Geringverdiener, sondern auch weite Teile der Mittelschicht zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten“. OGB-L-Präsidentin Nora Back war am selben Tag derselben Meinung: „D’Kafkraaft vun de Leit ass bis wäit an d’Mëttelschicht getraff.“ Der Verbraucherschutzverein ULC meldete am 12. September: „Der Kaufkraftverlust zieht sich bis weit in die Mittelschicht hinein.“
Die Gesellschaft ist eine Klassengesellschaft. Davon zu reden, gilt als unanständig. Früher hieß das christliche Volksfamilie. Heute heißt es Sozialpartnerschaft. Alle wollen nur Steuerklassen kennen. Wurde nicht 2009 mit der Einführung des Statut unique die Arbeiterklasse durch Gesetz abgeschafft? Mag sein, dass eine Kassiererin als „armutsgefährdet“ gilt. Weil der Ladeninhaber einen Firmen-Porsche fährt. Aber das sind Einzelschicksale. Wer das Gegenteil behauptet, will bloß Neid und Zwietracht säen. Sagen die Porsche-Fahrer.
Nun benennen Politiker, Gewerkschafter und Leitartikler plötzlich Klassenunterschiede. Sie wollen die Drastik ihrer Botschaft steigern. Sie schlagen Alarm: Die Preise der Wohnungen, der Energie und der Lebensmittel stiegen rasant. Die Krise habe ungewohnte Ausmaße angenommen. So dass ihre Quantität in eine neue Qualität umschlage. Sie bedrohe „sogar“ die Mittelschicht, den Mittelstand, das Kleinbürgertum, das Herz des Staates – ihre eigene Klasse.
Die Partikel „sogar“ beschreibt einen Gedankengang. Um eine Steigerung auszudrücken, setzt sie einen Gegensatz voraus. Und sei es einen Klassengegensatz. Sie geht davon aus, dass die niedrige Kaufkraft von Angehörigen der Arbeiterklasse normal und naturgegeben sei. Dem stellt sie gegenüber, dass die nun sinkende Kaufkraft der Mittelschicht dysfunktional und besorgniserregend sei.
Aus den Besitzverhältnissen in der Gesellschaft ergibt sich ihre Arbeitsteilung. Sie spricht Schlossern, Kellnerinnen, Maurern, Kassiererinnen, Paketboten, Putzfrauen und Lagerarbeiterinnen kein Anrecht auf einen hohen Lohn, auf ein angenehmes Leben zu. Weil sie eben Schlosser, Kellnerinnen, Maurer, Kassiererinnen, Paketboten, Putzfrauen und Lagerarbeiterinnen sind. Weil ihre Arbeit fremdbestimmt und anstrengend, oft unangenehm und gesundheitsschädlich ist. Das heißt wegen ihrer Ausbildung, wegen der Handarbeit, wegen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.
Unabhängig von ihrem Verhältnis zu den Produktionsmitteln nennen Bezieher mittlerer Einkommen sich Mittelschicht. Kleinbürger und Mittelständler wie Büroangestellte, Beamtinnen, Buchhalter, Studienrätinnen, Geschäftsleute, Anwälte, Tierärztinnen und Schreiner. Sie können liberal oder reaktionär, Hipster oder vegan sein, sie beanspruchen ein angenehmes Leben. Weil sie eben Büroangestellte, Beamtinnen, Buchhalter, Studienrätinnen, Geschäftsleute, Anwälte, Tierärztinnen und Schreiner sind. Wegen ihrer Bildung, wegen der Büroarbeit, wegen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.
LSAP-Politiker Gabriel Boisante besitzt Gastwirtschaften. Er beschäftigt Tellerwäscher. Er spottet: „Wann ee wëll méi verdénge wéi e Plongeur, da soll een an d’Finanze schaffe goen“ (d’Land, 7.10.2022).