Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn

Verantwortungsethik

d'Lëtzebuerger Land vom 21.10.2022

Vergangene Woche verlas DP-Premier Xavier Bettel eine Erklärung zur Lage der Nation. Sie trug den Titel „Verantwortung iwwerhuelen“. Zwei Dutzend Mal redete er von Verantwortung.

In der Politik ist „Verantwortung übernehmen“ ein Euphemismus. Er bedeutet Rücktritt. Die Notwendigkeit, für Fehlentscheidungen zu haften und zurückzutreten. Laut Artikel vier der Verfassung ist nur der Großherzog verantwortungslos.

„Ech lafe viru menger Responsabilitéit an där Saach do net fort. A wann et esou wäit ass, da stellen ech mech där Responsabilitéit och.“ Versprach CSV-Premier Jean-Claude Juncker am 13. Juni 2013. Als der Geheimdienstskandal nicht mehr zu vertuschen war. Dann drückte er sich an seiner Verantwortung vorbei. Bis die LSAP ihn fallen ließ. Umgehend kandidierte er wieder.

Auch die grüne Ministerin Carole Dieschbourg und der grüne Abgeordnete Roberto Traversini übernahmen nicht ihre Verantwortung. Sie traten erst zurück, als die Staatsanwaltschaft klingelte. Sie fühlten sich als Verfolgte, nicht als Verantwortliche.

Während der Covid-Seuche starben Hunderte in Heimen. Weil die Gewerbefreiheit der Pflegefirmen wichtiger war als die Impfung der Putzfrauen. DP-Familienministerin Corinne Cahen übernahm ihre Verantwortung nicht. Der Copas-Vorstand und die Heimleitungen auch nicht.

Ein auf 170 Millionen Euro veranschlagter Militärsatellit kostet das Doppelte. Vor den Wahlen forcierte LSAP-Verteidigungsminister Etienne Schneider die Verabschiedung des Gesetzes. Ein Regierungsbeschluss, den 58 von 60 Abgeordneten unterstützten. Etienne Schneider übernahm seine Verantwortung nicht. Die Regierung und die 58 Abgeordneten auch nicht.

In den Achtzigerjahren radikalisierte sich der Liberalismus. Er schuf als ökonomische Vernunft getarnte Zwangslagen. „Verantwortung übernehmen“ wurde ein Euphemismus für undemokratische Entscheidungen. Um Minderheitsinteressen durchzusetzen.

Wollen die Unternehmer Preissteigerungen auf die bei ihnen verdingten Arbeiter und Angestellten abwälzen, ruft die Regierung die Tripartite zusammen. Kommt sie damit nicht durch, kündigt sie an: Dann „muss die Regierung die Verantwortung übernehmen, die sie gegenüber den Menschen hat, die von der Krise betroffen sind“. So Xavier Bettel nach den gescheiterten Tripartite-Verhandlungen im Frühjahr (lessentiel.lu, 31.3.22). Sie manipuliert den Index trotzdem. Sie stellt sich als Erziehungsberechtigte dar. Sie muss die Wählerschaft zum Glück zwingen. Wie unvernünftige Kinder mit Lebertran und Zahnspangen.

Nun erfand Xavier Bettel eine dritte Bedeutung. In seiner Erklärung zur Lage der Nation versprach er dem Parlament: „Mir iwwerhuele Verantwortung fir eis eegen an eis kollektiv Sécherheet“ (S. 4). „Mir iwwerhuelen zesumme Verantwortung fir eis Versuergungssécherheet“ (S. 6). „Mir iwwerhuelen haut Verantwortung, fir datt et eis och muer nach ëmmer gutt geet“ (S. 20). „Mir iwwerhuele Verantwortung fir eng gerecht Logementspolitik“ (S. 25). „Mir iwwerhuelen also Verantwortung fir e méi performanten a méi inklusive Gesondheetssecteur“ (S. 31).

Der Premier sagt: Die Regierung übernimmt ihre Verantwortung. Er meint: Sie ist bereit, irgendetwas zu tun. Haubitzen zu kaufen, Strom zu verkaufen, Wohnungen bauen zu lassen, Krankenpflegerinnen einzustellen. Sich zu kümmern, überhöht er zu einer pompösen Geste. Das Gebotene zu erledigen, bekränzt er mit Heldenmut, moralischer Größe, tragischen Gewissenskonflikten. Doch es bleibt in Pathos gehüllte Banalität: Übernimmt der Apfel seine Verantwortung, wenn er vom Baum fällt?

Berufspolitiker neigen ab und zu zur Hochstapelei. Sie leben in der existenziellen Unsicherheit befristeter Arbeitsverträge. Sie müssen die herrschenden Klassen zufriedenstellen und alle fünf Jahre die beherrschten Klassen bei Laune halten. Ihr Handlungsspielraum ist geringer als ihre Verantwortung. So wuchern sie manchmal damit..Romain Hilgert

Romain Hilgert
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