Kunst

Offenbarungen in Weiß

d'Lëtzebuerger Land vom 23.10.2008

„Wenn ich ich bin, weil ich ich bin, und du du bist, weil du du bist, bin ich ich und du bist du. Wenn ich aber ich bin, weil du du bist und du du bist, weil ich ich bin, bin ich nicht ich und du bist nicht du.“ Zuge­gebenermaßen wirken diese in Yas­mina Rezas Drama Kunst zitierten Worte befremdlich bis lächerlich und der Verfasser dieses Artikels hofft  darauf, sie möglichst eins zu eins wiedergegeben zu haben. Befasst man sich mit diesem Zitat aber etwas eingehender, so lässt sich eine Erkenntnis aus dem pronominalen Salat herausleiten, die in etwa so klingen könnte: Wer sein Wesen und Handeln auf sich selbst bezieht, verfügt über eine Identität, wer beides von seinem Gegenüber abhängig macht, der ist nicht „ich“.

Unter anderem mit diesen Worten reagiert der chaotische Bräutigam Yvan (Luc Feit) auf den ausgebrochenen Konflikt zwischen seinen beiden Freunden, dem zynischen Ingenieur Marc (Germain Wagner) und dem kunstinteressierten Dermatologen Serge (Hans-Jörg Frey). Gibt es einen Zusammenhang zwischen den oben zitierten Worten von Yvans Therapeuten und dem ausgetragenen Konflikt? Und was haben das vieldeutige, komplexe Weiß eines 200 000 Francs teueren Gemäldes mit diesem ganzen Wust an psychischer Offenbarung gemein? 

Doch der Reihe nach: Spöttisch muss Marc feststellen, dass sein bester Freund Serge ein Gemälde erworben hat. Es ist weiß: weißer Hintergrund mit weißen Querstreifen. Betrachte man es mit der geballten Kraft künstlerischer Offenheit, so erkenne man an guten Tagen gar einen weißen Mann, der einen weißen Raum betritt und wieder verlässt. Das Meisterwerk ist also... weiß. Glaubt man aber den Worten des hämischen Marc, so ist es „Scheiße“. Die tolerante Haltung des Dritten im Bunde, Yvan, der zur Besänftigung des beleidigten Sammlers beitragen soll, entspricht denn auch jener Haltung, die in Künstlerkreisen gefordert wird, um die umstrittenen Ergüsse der Postmoderne mit der gebotenen Ernsthaftigkeit zu betrachten: Offenheit für alles.

Aus dem aberwitzigen und urkomischen Diskurs schält sich jedoch letztlich die Selbstoffenbarung einer Männerfreundschaft heraus, in der die Ansicht auf Kunst und Können nur noch Vorwand ist. Gegenseitige Beschuldigungen legen dabei einen teilweise faulen Kern frei, der zeigt, dass diese Freundschaften nicht immer echt waren. „Man muss seine Freunde immer überwachen“, trotzt Marc selbstgefällig. Serge seinerseits beleidigt ihn mit der Hässlichkeit seiner Ehefrau. Doch auch die humoristische, stellenweise neutrale Funktion des Yvan wird mit der Zeit dekonstruiert. Versucht er anfangs noch mit ironischen Einlagen, die vermeintliche Nichtigkeit des Konflikts auf Hofnarrenweise zu entlarven, so bricht er in Tränen aus, als er seine Neutralität aufgeben muss und den gegenseitigen Beleidigungen selbst zum Opfer fällt. Das Ich wird vom Du überrollt. Ausgangspunkt ist ein Bild. Ein weißes Bild.

Rezas Drama wurde 1994 in Paris uraufgeführt, preisgekrönt und inzwischen in 40 Sprachen übersetzt. Meike Harten hat diese verbale Meisterleistung sehr sachlich in Szene gesetzt. Sachlich deshalb, weil dieses Werk von dem Reichtum und der Abwechslung seiner erfrischenden Dialoge lebt. Es steht für sich selbst. Ausschlaggebend sind dafür jedoch leistungsstarke Darsteller, die die spritzigen, aber komplexen Dialoge beleben und meistern müssen. Auch diese Bedingung wurde mit bemerkenswerter Spielfreude erfüllt. Der tosende Applaus nicht nur am Ende der Vorstellung bezeugte die Wucht und den Unterhaltungswert eines Dramas, das zum Glück im Februar 2009 wiederaufgenommen wird.  

Claude Reiles
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