Die Probe

Auf brüchigem Stein

d'Lëtzebuerger Land vom 09.10.2008

Die Erbmasse eines Menschen, die DNS, ist ein Konstrukt aus vier möglichen Bausteinen (Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin). Dies ist eine mikrobiologische Tatsache. Sie kann uns Klarheit über die Einzelbestandteile, mögliche Krankheiten und die allgemeine Verfassung eines menschlichen Wesens verschaffen. Ihre Entdeckung kann ein Segen bedeuten. 

Kann. Die DNS verfügt nämlich auch über jene unwillkommene Eigenart, uns mehr verraten zu wollen, als uns manchmal lieb ist. Sie verkennt die emotionalen Widersprüche, psychisch motivierten Ansprüche, alltäglichen Gewohnheiten und gesellschaftlichen Zwänge, mit denen wir uns arrangiert haben. Die reine, biologische Tatsache und das Bild unseres Selbst überschneiden sich nur selten, stimmen nicht immer überein. Mit dieser Erkenntnis muss sich auch Peter Korach abfinden, der nach Jahren liebevoller väterlicher Hingabe der Wahrheit ins Auge sehen muss, dass er nicht der leibliche Vater seines kleinen Soh­nes ist. Seiner Ehefrau Agnes gegenüber von nun an hasserfüllt, sucht er Rat bei Vater Simon und Mutter Helle. Der eine befindet sich auf der Zielgeraden zu seinem politischen Wahlerfolg, die andere sucht im Kar­ma der indischen Exotik ihre neue Erfüllung. Ein uneheliches Kind und ein verzweifelter Vater passen nicht in diese Lebenspläne. 

In etwa zehn Einzelszenen, die sich bis in die Mitte der Handlung fast nur auf Dialoge zwischen zwei Personen begrenzen, treffen die wartenden und die eingetroffenen Familienmitglie­der der Reihe nach aufeinander, be­sprechen die Lage und wollen Hilfe aufbringen, vor allem in eigener Sache. Denn insbesondere die verzerr­ten, egozentrischen Fratzen hinter der Maske jedes einzelnen Protagonisten deuten auf die Scheinheiligkeit jedes Mitspielers hin: Die Probe des Schweizer Lukas Bärfuss befasst sich mit der Lebenslüge eines familiären Miteinanders und entblößt den Menschen als Einzelkämpfer. So sehr die Figuren soziale Fertigkeiten vortäuschen, so sehr kümmern sie sich immer noch am meisten um ihre ei­gene Identität und verlieren sie damit zugleich.

Die Hinterlistigkeit des Franzeck, Re­ferent des Simon Korach, entpuppt sich letztlich noch als Ehrlichkeit. Seine Absicht, im Windschatten des politischen Ziehvaters letztlich selbst die Macht zu ergreifen und seine im Kern brodelnde Alkoholschwäche zu verdrängen, rufen Erinnerungen wach an Charles Dickens‘ Figur Uriah Heep: ein Archetypus jener Neigung, sich durch das Vorgaukeln so­zialer Nächstenliebe nach oben zu schleichen und dabei über Leichen zu gehen. Die Leiche ist Franzeck schließlich selbst. Und doch offenbart sich diese Figur am Ende, korn­saufend und blutverschmiert, zerstört, aber als der Wahrheit am nächsten.

Um der kritischen Analyse vorzugreifen: Renate Ourths Inszenierung ist durchaus gelungen. Die subtilen Licht- und Schattenspiele zwischen den Sta­tio­­nen von Lukas Bärfuss‘ Drama deuten jene Schattenwelt an, die sich hinter der reichlich aufgetrage­nen Schminke der Figu­ren auftut. Die Dar­steller erfassen und meistern ihre Rollen. Tom Leick (Peter Korach), Bina Blumencron (Agnes) und Daniel Plier (Franzeck) war am Premiere-Abend zwar durchaus etwas Anfangsnervosität abzusehen. Diese legte sich jedoch und neben Daniela Ernzi als Helle überragte vor allem Peter Pruch­nie­witz in seiner Rolle als redegewand­ter und doch in seinem Fußbad menschlich bloßgestellter Politiker das Gespann. Ingredienzen demnach für einen gelungenen Theaterabend.

Und doch... das röchelnde Schnarchen eines Theaterbesuchers in den hinteren Reihen am Premiereabend mag eine überspitzte Reaktion auf die eigentliche Schwäche des Dramas gewesen sein. Trotz brisanter Thema­tik und gesellschaftlicher Aktualität ist Bärfuss‘ Drama zu dialoglastig, zu behäbig, um den Zuschauer bei der Stange zu halten. Die zehnsekündigen, abgedunkelten Pausen, die vor allem der Umpositionierug der Schauspieler und der Requisitenverschiebung dienten, boten dem Zuschauer die einzige Gelegenheit, die minutenlangen Dialoge zu verarbeiten und kurzfristig zu verschnaufen, bevor die nächsten verbalen Ergüsse auf ihn niederprasselten. 

Da sich die bisherigen Inszenierun­gen ähnlich gewesen sind, muss davon ausgegangen werden, dass die groteske Vorlage dem Regisseur wohl bereits vorgibt, den aufgebahrten Leichnam des am Ende verunglückten Peter Korach während der letzten halben Stunde in kitschigen Farbtönen auf der Bühne zu positionieren. Auf lächerlich lakonische Weise soll damit angedeutet werden, dass alles Handeln mit Schuld beladen sei.

Es ist der Produktion des Théâtre des Capucins demnach kaum ein Vorwurf zu machen, dass die Vorstellung eher langatmig war. Im Gegensatz zu den auch in Luxemburg inszenierten Vorgängern (Die sexuellen Neurosen unserer Eltern, Der Bus) wird Bärfuss‘ Text wohl kaum in die Analen deutschsprachiger Dramenwerke eingehen. Das Théâtre des Capucins hat aus brüchigem Stein ein bewohnbares Haus erbaut. 

Eine letzte Vorstellung ist für den 14. Oktober um 20 Uhr angesetzt. Informationen unter www.theatres.lu. Kartenreservierung unter www.luxembourg-ticket.lu

Claude Reiles
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