Heutzutage gibt es keine Altersheime mehr. Heutzutage findet Alter und Tod, Vergreisung und Vereinsamung in Cipas statt. Aus den Heimen wurden Zenter (so wie Gartenzenter), aus den Alten Ältere, die sich mit sich selbst integrieren sollen. Oder die sich in die Gesellschaft wieder hineinintegrieren sollen, aus der sie rausgeschubst wurden. Leider werden die zahlreichen Sommerfeste mit singenden und trommelnden Urgroßmüttern nichts daran ändern können, dass die Cipas mit erhöhtem Spaßfaktor die letzte Vorstufe zum Tod sind. Dass die Älteren sich noch immer sehr ungern in die umbenannten Heime integrieren. Die farbenfrohen Flure sollen den Besucher über die Beklemmung hinweghelfen, die ihn unwillkürlich in diesen seltsam stillen Wohnblöcken des Alters heimsucht.
Beklemmung, Stille, sinnloses Aneinandervorbeireden in einem ewig gleichen Zeitrythmus: Alltag im Altersheim. Zwei Männer, von den jeweiligen Familien abgeschoben, teilen sich ein Zimmer. Bekriegen sich mit Worten, verteidigen verzweifelt den letzten Rest an Intimität und Selbstachtung. Ze spéit von Guy Wagner, der erste Teil der Inszenierung Notturno in der Escher Kulturfabrik, wurde 1979 geschrieben – als Altersheime noch Altersheime hießen. Im Untertitel nennt der Autor das Stück „een Tatsaachespill“; wohl auch, da die Inspiration durch eine Notiz im Tageblatt kam, in der es hieß: „Greis erschlägt Zimmergenossen, weil er ihn alle 5 Minuten nach der Uhrzeit fragte.“
Die größte Stärke des Stücks, das Claude Mangen inszeniert hat, liegt denn auch in seiner brutalen Nähe zur Realität. Brutal für die Protagonisten, die nahe am Tod agieren, und brutal für den Zuschauer, wegen der vielen gespiegelten Realität. Während die sehr verkrampfte Inszenierung nicht aus der Beklemmung zu verhelfen vermag, bietet die Darstellung durch die beiden Laienschauspieler Marcel Heintz und Camille Olinger – gewollt oder ungewollt? – einige Öffnungen von der erstarrten Endspiel-Stimmung zur Liewensfrou-Atmosphäre. Tod durch brutales Erschlagen.
Nach zwanzig Minuten Wartezeit geht Notturno in die zweite Runde: D’Enn, mäi Frënd wurde 2006 mit dem 1. Preis des Nationalen Literaturwettbewerbs ausgezeichnet. Alles gleich und alles anders? Guy Wagners zweite Runde setzt auf eine ähnliche Ausgangssituation wie Ze spéit: Zwei Menschen, diesmal ein Bruder und seine behinderte Schwester, sind durch das Schicksal des Lebens aneinander gebunden. Abermals die Situation eines beklemmenden huis-clos, aus dem ein Entrinnen nur in Worten stattfindet. Alles anders, weil man von der ersten Minute an erkennen kann, was Theater vermag, wenn es in den besten Händen liegt: Eine wahre Meisterleistung der Regiearbeit von Charles Muller, der aus unseren bekannten Profis der Luxemburger Szene, Myriam Muller und Jules Werner, das Beste herausholt. Würde man Ze spéit mit einem groben Klotz vergleichen, wäre D’Enn, mäi Frënd ein reliefreicher Naturstein mit vielen Farbnuancen.
Vor allem wären über Notturno Vergleiche zwischen erstem und zweitem Teil anzustellen. Ein Vergleich der unterschiedlichen Regiearbeit, des Schauspiels, der in Szene gesetzten Texte. Im Gespräch mit Olivier Ortolani unterstreicht Charles Muller, dass die Projekte in keinster Weise in Konkurrenz zueinander stünden und „komplementär“ seien.
Mag sein, dass dies das Ansinnen der Regisseure war – es funktioniert so aber nicht. Nicht im Auge des Betrachters, nicht im Hirn des Zuschauers, der ähnlich schwer strukturierte Kost in doppelter Auflage verarbeiten muss. Bei D’Enn, mäi Frënd sieht er gute Theaterarbeit, für Ze spéit kann man sich getrost auf die Lektüre des Textes beschränken, der bei Éditions Phi erschienen ist. Die lei-se Dramatik und Melancholie des – gereiften – Wagner hätte sich mit wesentlich mehr Nachdruck im Gemüt festgesetzt, wenn es – ähnlich wie Schuberts Notturno – in der Kürze seinen kraftvollen Ausdruck gesucht hätte.
Notturno mit zwei Stücken von Guy Wagner wird noch heute abend um 20 Uhr in der Escher Kulturfabrik gezeigt. Ze spéit unter der Regie von Claude Mangen, mit Marcel Heintz und Camille Olinger. D’Enn, mäi Frënd unter der Regie von Charles Muller, mit Myriam Muller und Jules Werner. Bühnenbild von Anouk Schiltz, Kostüme von Peggy Würth. Eine Koproduktion des Escher Theaters und der Kulturfabrik. Die Texte der Stücke sowie Gespräche mit den Regisseuren Mangen und Muller wurden bei den Éditions Phi in Amphitheater 74 publiziert.