Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg

Opa, erzähl endlich vom Krieg!

d'Lëtzebuerger Land vom 29.05.2020

Nach der Schule sind wir in den Wald gelaufen. Der 9. Mai 1940 war ein Donnerstag, und an Donnerstag-Nachmittagen hatten wir schulfrei. Es war Frühsommer und wir, „mäi beschte Frënd Néckelchen an ech“, hatten einen Plan: Maikäfer fangen. Néckelchen kletterte also einen Baum hinauf, vielleicht ein bisschen zu hoch, und rüttelte an einem dicken Ast, vielleicht ein bisschen zu fest. Ich stand unten, um die Käfer zu fangen. Doch statt eines Insekts kam mir plötzlich
Néckelchen entgegengeflogen. Er hatte sich selbst vom Baum geschüttelt. Noch am gleichen Abend wurde ihm ein Gips angelegt. Das war ärgerlich, denn am folgenden Wochenende wäre in Esch/Alzette die Pfingst-Kirmes gewesen. Sie würde nicht stattfinden. Das wussten wir zu dem Zeitpunkt nur noch nicht.

In der Nacht vom 9. auf den 10. Mai 1940 fallen die ersten deutschen Truppen in Luxemburg ein. Mehrere Panzerdivisionen durchqueren den Nordteil des Landes, Gegenwehr gibt es praktisch keine. Als mein Großvater an jenem Freitagmorgen im Elternhaus in Schifflange aufwacht, ist Luxemburg-Stadt schon besetzt. Nur wenig später werden er, Néckelchen und ihre Familien sich in der Schusslinie wiederfinden, zwischen deutschen Soldaten mit Panzerabwehrkanonen und französischer Artillerie, oft nur einen Steinwurf vom Einschlagkrater entfernt.

Meine Großeltern haben alle als Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebt. Die berühmte Frage – „Opa, erzähl doch mal vom Krieg“ – haben wir Enkel dem mütterlichen Großvater aber nie gestellt. Vielleicht hatten wir Angst, vielleicht waren wir auch einfach nicht daran interessiert. Je älter ich wurde, und je älter mein Großvater wurde, desto mehr drängte sich mir diese Frage auf. Wie war das eigentlich, damals, als die Deutschen kamen?

Es war Motorenlärm, der uns geweckt hat. Von oben, es mussten Flugzeuge sein. Ich öffnete das Fenster, Vater und Bruder gesellten sich schnell dazu. In der Ferne sahen wir eine Handvoll Flugzeuge, Modell Fieseler Storch, es mussten Deutsche sein.

Direkt hinter unserem Haus verlief die Eisenbahnstrecke Richtung Luxemburg. Die Flugzeuge flogen den Schienen nach, so orientierten sie sich. Nicht weit von uns lenkten sie ein, 90 Grad Kurve, Richtung Foetz. Von meinem Fenster sahen wir direkt ins Nachbardorf, zweieinhalb Kilometer Luftlinie. Wir sahen zu, wie die Flugzeuge dort auf einer Wiese landeten. Später erzählte man sich in Schifflange die Geschichte, wie einer der Gendarmen mit dem Fahrrad hinüber nach Foetz fuhr, um für Ordnung zu sorgen. Er war schnell wieder zurück in Schifflange.

Die Soldaten machten sich daran, die Bäume entlang der damaligen Nationale 4 zu fällen, der Verbindungsstraße zwischen Esch/Alzette und Luxemburg-Stadt. Der Weg ins Land hinein war blockiert. Und die Soldaten steckten ihre Flugzeuge in Brand. Den Menschen wurde langsam klar, was passierte: Die hatten einen klaren Auftrag. Auf der Straße vor unserer Haustür fingen die Leute an zu schreien: „D’Preise kommen“. Das Leben war ab dem Zeitpunkt sofort lahmgelegt. Niemand ging mehr zur Arbeit. Die Züge fuhren nicht mehr, auch an die Schule dachte keiner. Und dabei hatten die Franzosen noch gar nicht zurückgeschlagen.

Am späten Morgen des 10. Mai reagieren die Franzosen auf den deutschen Einmarsch. Teile einer
Kavalleriedivision überqueren im Minette die Grenze, es kommt aber nur zu kleineren Gefechten. Die Franzosen ziehen sich schnell zurück hinter die Maginot-Linie, die als Bollwerk gegen eine deutsche Offensive gedacht war. Von dort aus beginnt schließlich die französische Artillerie, in Richtung Front zu schießen.

Die Sache mit den Granaten war: Man hat sie nicht gesehen, man hat sie gehört. Ein langes Pfeifen, das immer lauter wurde. Mein Vater und ich haben uns im Nachmittag auf den Speicher unseres Hauses gesetzt. Wir hörten die Granaten kommen, irgendwo schlugen sie ein, das hörten wir auch, nur lange sahen wir nichts. Von unserem Dach blickten wir genau auf eine der Arbed-Kolonien, in denen die Arbeiter wohnten. Dort hatte sich eine Menschentraube angesammelt, wir konnten nicht hören, was sie sprachen, wir sahen auch nicht genau, wer da alles stand.

Plötzlich pfiff es wieder. Fffffffffffffffft. Die Granate schlug mitten in der Menschenmenge ein. Es krachte fürchterlich, Staub stieg auf, Schreie. Mein Vater schloss das Fenster und sagte, es sei besser, wir würden jetzt mal runtergehen.

Ein paar Wochen später erfuhr ich, dass einer meiner Klassenkameraden von dieser Granate getroffen wurde. Es war der erste Tag des Krieges und er verlor an diesem Tag sein Bein. Ich bin dann den ganzen Tag weiter durch die Straßen gelaufen. Die deutschen Soldaten kamen von überall her, die ganze Stadt war voll mit ihnen. In einer Scheune hatten die Deutschen ein Lazarett aufgebaut. Immer wieder kamen Soldaten, die auf einer Tragbahre verwundete Kameraden herbeitrugen. Einer musste eine schwere Wunde am Kopf haben, bei jedem Schritt schwappte Blut aus der Bahre, schwapp, auf den Boden. Es platschte richtig. Er kann nicht mehr lange gelebt haben.

Im Wohnzimmer meiner väterlichen Großeltern hängen neun Porträtfotos, schön platziert um den Türrahmen. Es sind Fotos von Kindern, alle in ähnlichen Posen, in ähnlichen Kleidern. Es sind Fotos von uns, den Enkeln, meine Cousins und Cousinen, meine Geschwister, ich. Jedes der Fotos ist am Tag unserer jeweiligen Kommunion aufgenommen worden, jeder von uns ist neun oder zehn Jahre alt.

Als die Deutschen kamen, waren auch meine beiden Großväter neun und zehn Jahre alt. Seit Jahren muss ich immer an diesen Kontrast denken, wenn ich diese Bilder sehe. Auf den Fotos sind wir Enkel alle Kinder, einige frech, andere brav, aber alle unschuldig. Unsere Großeltern waren es auch, am 9. Mai 1940. Ist die Kindheit zu Ende, wenn um einen herum der Krieg ausbricht?

Ich habe mich damals nicht für die Politik des Krieges interessiert, nicht vor dem Krieg, nicht währenddessen. Aber nach dem deutschen Einmarsch in Polen, im Herbst 1939, war die Stimmung auch bei uns zuhause anders. Die Eltern haben schon befürchtet, dass der Krieg kommen könnte. Und er war immer ein Thema. Ich erinnere mich an die Worte, die meine Mutter mir damals entgegnete, als ich nach Geld für „Knätschgummi“ fragte: „Dir geht es zu gut! Es wird mal wieder Zeit für einen Krieg, dann kommst du wieder mit den Füßen auf den Boden.“ Doch ich hatte zu keinem Zeitpunkt Angst. Nicht an dem ersten Tag, als wir die Granate einschlagen sahen, nicht als der verletzte Soldat vorbeigetragen wurde. Und auch nicht, als unser Haus schließlich selbst von der französischen Artillerie getroffen wurde. Ich hatte keine Angst.

Der luxemburgische Süden ist zu Beginn des Krieges eingeklemmt zwischen den beiden Streitkräften. Am zweiten Tag des deutschen Einmarsches hat sich die Front noch nicht wirklich verlagert, die Franzosen schießen weiter in Richtung der deutschen Armee, mein Großvater, seine Familie, Schifflange, Néckelchen, sie alle stecken mittendrin.

Wir saßen gerade beim Frühstuck, da fing das Gepfeife wieder an. Die ersten Granaten schlugen ein und mein Vater schickte uns alle in den Keller. Weil wir ja nicht wussten, wie lange wir dort feststecken würden, wollte sich mein älterer Bruder noch unbedingt waschen. Er saß also im Keller in einem Bottich voller Wasser, und dann krachte es. Von der Decke regnete der Staub auf uns herab. Aus heutiger Sicht war es eine absurde Situation: Alles dreckig, oben versuchte jemand, die Haustür mit Kraft aufzubekommen, unten sitzen wir und der Bruder hockt nackt in seinem Badewasser! Die Granate hatte unser Haus voll ins Dach getroffen. Oben lagen lauter Trümmer, es staubte. Und uns wurde klar: Bald müssen wir hier weg. Um 10 Uhr war es dann soweit. Der Gemeindeausrufer lief durch die Straße und verkündete, dass innerhalb der nächsten Stunde alle weg sein müssten. Der Krieg sei da.

Der damalige Kanton Esch/Alzette war zwischen deutscher und französischer Armee eingekesselt. Die folgende Evakuierung der Bevölkerung erfolgte schlecht organisiert, viele Menschen wurden ohne Destination auf die Reise geschickt. Klar war nur: Rund die Hälfte der Evakuierten musste nach Frankreich, die andere Hälfte ins Land hinein, Richtung Luxemburg-Stadt und in den Norden. Mein Großvater und seine Familie landen durch Zufall in Bourglinster, ein Freund des Vaters kannte dort Leute, es war Glück im Unglück.

Ich erinnere mich vor allem an den Lärm. Jeden Tag, jede Nacht marschierten die Deutschen vorbei. Sie mussten alle zu Fuß in Richtung Paris laufen! Am ersten Tag des Kriegs kamen sie mit Wägen und Maschinerie, jetzt kamen sie mit Pferden, „mat schéine, grouße Schaffpäerd“. Jeden Abend saßen sie an die Burgmauer gelehnt, Stiefel und Socken ausgezogen, das Gesicht schmerzverzerrt, und warteten auf den Arzt. Ob der ihnen half, weiß ich nicht genau: Fand er eine Blase am Fuß, schnitt er sie auf. Und am nächsten Tag marschierten die Soldaten weiter.

Sieben Wochen blieb die Familie in Bourglinster. Die dortige Bevölkerung kümmerte sich gut, meine Urgroßeltern halfen auf den Feldern, mein Großvater ging wieder zur Schule. Mit der Kapitulation der französischen Streitkräfte Ende Juni endete der Westfeldzug. Die evakuierten Luxemburgerinnen und Luxemburger konnten zurück in ihre Heimat.

Wir kamen am 27. Juni 1940 wieder zuhause an. Mein Vater hatte vor der Evakuierung zwar das ganze Haus verriegelt, trotzdem stand die Tür jetzt weit offen. Die deutschen Soldaten hatten das Haus, wie viele andere, als Unterkunft benutzt. Doch damit nicht genug: Sie hatten den Wein aus dem Keller gesoffen, die Wasserhähne aufgedreht, das Wasser lief aus der Haustür hinaus!

Wir machten uns gleich an den Wiederaufbau. Und vieles ging schnell, bis zum Winter 1940 war das Dach renoviert und die Heizung, die beim Granateneinschlag kaputt gegangen war, repariert. Doch wir fanden auch Monate später noch Dreck und Überreste. Einmal hörte ich meinen Vater laut fluchen. Unter seinem Bett hatte er seinen Hut hervorgekramt, eine Melone, „e Preis huet dragekatzt, et si schonn Hoer drop gewuess“. Aber in dieser Zeit schwappte eine unglaubliche Solidarität über die Bevölkerung. Man half sich gegenseitig, beim Aufräumen, beim Aufbauen. Uns blieb ja nichts anderes übrig.

Warum stellen Kinder ihren Großvätern und Großmüttern überhaupt die Frage: „Erzähl doch mal vom Krieg“? Doch nicht, weil die politischen Verzweigungen sie interessieren. Nicht, weil sie von Leid und Zerstörung, von Trauer und Tod hören wollen. Meine Generation, die Kinder der 1990er, ist in einer der friedlichsten Zeiten der Menschheitsgeschichte aufgewachsen. Ja, es gab Konflikte, schlimme zum Teil, weit weg in Rwanda, vor Europas Haustür auf dem Balkan.

Aber der Krieg hat uns westeuropäische Kinder verschont. Ist er deshalb in den Erzählungen der Großeltern Mysterium, Abenteuer, Ungewissheit? Wollen die Kinder deshalb wissen: Hast du Pistolen gefunden? Bist du auf Panzer geklettert? Wie hat das Schwarzpulver gerochen? Wenn die Enkel älter werden, verändern sich die Fragen. Weil sie denken: Hätte ich diese Erfahrung überstanden? Dann fragen sie: Was hat der Krieg mit dir gemacht? Und was ist geblieben?

Alles, was hätte Angst machen können, die Granaten, die Verletzten, die Toten, der Lärm – all das ist zu schnell passiert. Wann immer ich im Verlauf meines Lebens vom Krieg geträumt habe, dann waren es Dummheiten: wie die deutschen Pferde in Bourglinster. Von denen habe ich oft geträumt. Aber von den Soldaten? Nie.

Ich war mir während des Krieges bewusst, wie ernst die ganze Sache war. Wenn im Sommer 1944 die Briten mit ihren B-52-Flugzeugen, den fliegenden Festungen, über uns hinwegflogen, um deutsche Städte zu zerbomben: Dann fiel mir bei ihrer Rückkehr schon auf, dass einige Flugzeuge fehlten. Dass einige Flugzeuge brannten. Dass einige Piloten nicht mehr nach Hause kämen. Und, natürlich, die Zeit hat uns getroffen. Kurz vor Kriegsende verstarb meine Mutter, das war schwer, mir war oft unwohl.

Aber man muss auch andere Dinge beachten. Der Jahrgang meines Bruders zum Beispiel, der wurde nicht eingezogen, der folgende schon. Einige meiner Freunde mussten noch zur Flak, ich aber nicht. Klassenkameraden, Nachbarn, Bekannte wurden verletzt, verfolgt, umgesiedelt. Wir nicht.

„Mir hate Chance“.

Matthias Matthias Kirsch
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