75 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau nimmt die Geschichtsforschung die Rolle von Luxemburger Soldaten neu in den Blick

Auch Luxemburger unter den Tätern

d'Lëtzebuerger Land vom 24.01.2020

Chiffre Auschwitz Als russische Soldaten am 27. Januar 1945 gegen 15 Uhr das Arbeits- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erreichten, trafen sie auf rund 700 ängstliche, ausgemergelte Gestalten: Es waren die letzten Häftlinge des Massenvernichtungslagers. Nur Tage zuvor waren die Deutschen abgezogen: Die SS vernichtete in aller Eile Gaskammern und Krematorien, ließ Akten verbrennen und schickte rund 60 000 Häftlinge auf Todesmärsche gen Westen – nur die Schwächsten, von denen man glaubte, dass sie dem Tod bereits sicher geweiht waren, ließ man zurück. Alle Spuren sollten beseitigt werden, nichts sollte mehr auf den größten Massenmord in der Geschichte der Menschheit hinweisen. Doch vergebens: In der Nachkriegszeit konnten Historiker und Juristen den Mord an mindestens 1,1 Millionen in Auschwitz nachweisen sowie an mehr als sechs Millionen Menschen insgesamt – davon knapp die Hälfte in den sechs Vernichtungslagern, 25 Prozent durch die fürchterlichen Bedingungen in Lagern und Ghettos sowie 25 Prozent durch Erschießen.

Während die Welt gerade an den 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz als Chiffre des Holocausts erinnert, wird Luxemburg von einer schwierigen Debatte eingeholt. Es geht um nichts Geringeres als die Frage nach der Luxemburger Beteiligung am Holocaust. Was haben die rund 14 800 Zwangsrekrutierten und 2 000 Freiwilligen, die größtenteils nach Osteuropa gebracht wurden, eigentlich dort genau gemacht? Ist es wirklich schlüssig, anzunehmen, dass sie sich von ihren deutschen Kameraden unterschieden und sich überwiegend anständig verhielten? Oder waren unter ihnen auch Täter?

Polizeibataillon Es sind die Historiker des Resistenzmuseums, Elisabeth Hoffmann und
Jérôme Courtoy, die diese Fragen aufwerfen. Beide haben Ende Dezember einen Artikel in der Woxx publiziert, in dem sie neue Quellen zum Reserve-Polizeibataillon 101 präsentieren. Dabei handelt es sich um ein Bataillon von insgesamt 500 Männern, die ab Sommer 1942 bei einem Sonderauftrag in Polen mindestens 38 000 Juden direkt erschossen und für mindestens 45 000 deportierte Juden ins Vernichtungslager Treblinka verantwortlich waren. Und in diesem Bataillon befanden sich auch 14 junge Luxemburger.

Hoffmann und Courtoy konnten anhand neuer Quellen und einer schlüssigen Argumentationskette nachweisen, dass die Luxemburger sich genauso an Mordaktionen gegen Juden beteiligten wie die anderen Männer im Bataillon. Der Befund ist dabei kein Novum, sondern bestätigt nur die Arbeiten von Mil Lorang im Jahr 2017 (Wie Luxemburger Soldaten in Osteuropa zu Teilnehmern am Judenmord wurden), Paul Dostert im Jahr 2000 (Die Luxemburger im Reserve-Polizei-Bataillon 101 und der Judenmord in Polen) sowie die Ursprungsstudie von Christopher R. Browning im Jahr 1992 (Ordinary Men).

Verspätete Debatte Doch anders als in den vergangenen dreißig Jahren scheint das Thema der Täterschaft erstmals in Luxemburg auf öffentliches Interesse zu stoßen. Als Browning sein Werk Anfang der 1990-er veröffentlichte, hat es kaum jemand in Luxemburg wahrgenommen. Erst als Daniel Goldhagen mit Hitler’s Willing Executioners (1996) Brownings Analyse zu widerlegen versuchte, und sich ein internationaler Historikerstreit über die Motive der Täterschaft in den deutschen Feuilletons entwickelte, gab es einen Ansatz von Interesse für das Thema in Luxemburg, das jedoch bald wieder abflachte.

Wie wenig die Luxemburger Gesellschaft um Aufklärung bemüht war, zeigt sich etwa an der Reaktion von Jean Heinen. Der frühere Wachtmeister, der als „Schütze Verwendung“ im RPB 101 fand, konnte seine Sicht der Dinge 1996 auf vier Seiten im Luxemburger Wort darlegen – ohne Einordnung durch Historiker oder Journalisten. Niemand stellte ihm kritische Fragen zu den Judenmorden oder klärte die Öffentlichkeit darüber auf, dass der Begriff „Partisanenkämpfe in Polen“ im NS-Jargon nichts anderes bedeutete als Juden zu ermorden, wie Heinrich Himmler am 18. Dezember 1941 notierte („Judenfrage/als Partisanen auszurotten“).

Es handelt sich demnach wie so oft in der Luxemburger Geschichtswissenschaft um eine verspätete Debatte. Aber sie zielt in den Kern der Holocaustforschung: Wie lässt sich der Massenmord, der „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) erklären?

Zwei Interpretationen Bereits seit den 1960-er-Jahren streiten sich internationale Historiker um diese Frage. Und sie teilen sich vereinfacht ausgedrückt in zwei Lager: Intentionalisten und Strukturalisten. Für Intentionalisten war die „Endlösung der Judenfrage“ ein von langer Hand gehegter Plan, der auf einen Mann zurück geht: Adolf Hitler. Sie führten an, dass der Vernichtungsplan schon in Hitlers Mein Kampf stand, bedauerte er doch, dass die „hebräischen Volksverderber“ nicht bereits im Ersten Weltkrieg „unter Giftgas gehalten“ worden waren. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg drohte Hitler öffentlich mit der „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“. Die Intentionalisten sahen als Ursache für den Holocaust also Hitlers Vernichtungsprogramm sowie die antisemitische Ideologie des Nationalsozialismus: Aus Deutschen wurden Nazis, wurden Überzeugungstäter. Auch Goldhagen stand in der Tradition dieser linearen Denkart, sprach er doch von „willigen Vollstreckern“ und einem „eliminatorischen Antisemitismus“, der sich nur mit einem „deutschen Sonderweg“ und weltanschaulicher Indoktrination erklären ließe.

Diese Deutung hatte jedoch ein Problem: Weder gab es einen „Führerbefehl“, der die „Endlösung der Jundenfrage“ anstieß, noch konnte sie erklären, warum die Morde nahezu nur in Osteuropa stattfanden und sich derart sukzessive in Etappen vollzogen. Die Historiker Hans Mommsen und Martin Broszat hegten in den 1970-er-Jahren Zweifel daran und sahen vielmehr eine „kumulative Radikalisierung“. Laut ihrer Deutung war es die Herrschaftsstruktur des Nationalsozialismus, die eine destruktive Dynamik auslöste. Das NS-Regime war darauf ausgelegt, stets die radikalste Lösung zu bevorzugen. Das wussten die konkurrierendem NS-Eliten und überboten sich mit immer dramatischeren und waghalsigeren Vorschlägen. Ganz ohne die Rolle Hitlers kommt diese Erklärung jedoch nicht aus: Denn die NS-Eliten taten dies im Glaube, Hitlers Willen zu antizipieren. „Dem Führer entgegen arbeiten“, ist die berühmte Formel von Hitlerbiograf Ian Kershaw, die diese Dynamik erklärt. Und sie gilt auch als Ansatz, um zu analysieren, warum das Vichy-Regime oder auch die Verwaltungskommission in Luxemburg nach Mai 1940 dem NS-Regime ohne Druck zuvorkommend entgegenkamen.

Ganz normale Männer Der Streit zwischen beiden „Schulen“ gilt heute als überholt. Aber langfristig konnten sich mehr Anhänger hinter der Radikalisierungsthese finden als hinter der Intentionsthese. Osteuropahistoriker wie Jörg Baberowski oder auch Timothy Snyder konnten überzeugend darlegen, dass das Morden sich in den Gewalträumen zwischen den Verbrecherregimen des NS-Reichs und der Sowjetunion geradezu entfesselte. Und letztlich war es auch die Studie von Browning, die zeigte, dass aus „ganz normalen Männern“ Täter werden können. Das waren nicht wie bei Hannah Arendt („Banalität des Bösen“) die einfachen Schreibtischtäter, die als Teil einer Bürokratie nur Formulare zur fabrikmäßigen Vernichtung ausfüllten und nicht direkt in Berührung mit den Opfern waren. Das waren auch keine überzeugten Nationalsozialisten, keine sadistischen Soziopathen oder Dämonen. Es waren gewöhnliche Männer, die in sozialen Gruppen kollektiven Zwängen folgten und in deren Welt das Töten zur Norm wurde. Sie töteten, weil es von ihnen verlangt wurde. Und je mehr das Morden zur Routine wurde, desto einfacher konnten die Männer damit umgehen.

Die Nationalität, die Bildung oder auch die Überzeugungen spielten beim Morden nur eine untergeordnete Rolle. Als Major Trapp den älteren Männern im RPB 101 beim Massaker von Jozefow im damaligen Distrikt Lublin die Möglichkeit gab, zur Seite zu treten und sich nicht an den Verbrechen gegen die Juden teilzunehmen, waren es lediglich zwölf von 500, die auf diese Option zurückgriffen. Luxemburger waren nicht dabei.

So war es lange eine Sackgasse, den Holocaust unter nationalen Gesichtspunkten zu deuten. Es gab keine exception luxembourgeoise, kein Luxemburger Sonderweg, der aus Ons Jongen nur edle Soldaten machte, die lediglich Opfer waren. Das waren viele natürlich auch, aber sie waren genauso Teil des Entfesselungs-Prozesses in den Gewalträumen des Ostens im Zweiten Weltkrieg und in das Massenmorden verstrickt.

Pol Schock
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