D’Walfer Neidierfchen 1940-1945. Ein Luxemburger Wohnviertel während der „dunklen Jahre“ (I)

„A wéi den 10. Mee 1940 d’Preise koumen … ’t muss géint sechs Auer gewiescht sinn“

d'Lëtzebuerger Land vom 08.05.2020

In seiner autobiografischen Erzählung Fir meng Mamm. Aus engem laange Bréif befasst der Schriftsteller und Dramatiker Pol Greisch sich mit seiner in Walferdingen erlebten Kinder- und Jugendzeit während der 1930-er und 1940-er Jahre. Einen besonderen Stellenwert nehmen dabei die Erinnerungen an die Kriegsjahre 1940 bis 1945 ein. Aus der Perspektive des damals zehnjährigen Schülers aus dem „Neidierfchen“ schildert Greisch im Jahr 2000 den Einmarsch der Wehrmacht am 10. Mai 1940. Gegen sechs Uhr morgens vernimmt der Erzähler die Stimme seines Vaters im Elternschlafzimmer: „D’Preise sinn do.“

Die plötzlich aufkommende Unruhe im Haus verleitet ihn dazu, sich den Durchmarsch deutscher Truppeneinheiten entlang der Dikrecherstrooss unbemerkt anzuschauen: „A scho stoung ech och heemlech bei der Fënster, d’Stir widder d’Glas gedréckt: Eng sëlleche Motocyclette mat an ouni Sidecar koume vun Heeschdref eropgerannt.“ Auch an Infanterieeinheiten auf LKWs weiß Greisch sich zu erinnern. Dabei scheinen ihn vor allem die Wehrmachtssoldaten beeindruckt zu haben: „Allkéiers an zwou Reie sëtzen di grogring Zaldoten hannen op de Camionen, d’Flënt bei Fouss. ’t kënnt ee mengen, si wieren aus Bläi: Si verzéie keng Minn“ (Greisch 2000: 64-65).

Der heutige Beitrag über den 10. Mai 1940 in Greischs Heimatortschaft ist der Auftakt zu einer sporadisch erscheinenden Artikelserie, in der thematisch angelegte Fallstudien über Walferdingen zur Zeit der „dunklen Jahre“ vorgelegt werden.

10. Mai 1940. Geschichte von oben

„D’Leit hu schonn du vum Krich geschwat, net, et war jo 39“, lautet die Aussage des 76-jährigen Robert Geisen auf einer Tonträgeraufnahme aus dem Jahre 2000. Er kann sich daran erinnern, dass „e bëssen Opreegung“ herrschte, auch wenn er damals als 15-Jähriger die bevorstehende politische Gefahr nicht so richtig erfassen konnte: „A mir Kanner hunn déi Zäit jo na net sou immens vill verstan dovun, mee mir hunn awer gemierkt, dass dat näischt Guddes géif ginn“ (Geisen 2000).

Die Eltern hingegen sind sich des drohenden militärischen Konflikts bewusst. Spätestens seit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September und den dadurch ausgelösten Kriegserklärungen Großbritanniens und Frankreichs am 3. September 1939 befürchtet man, dass im Falle einer breit angelegten deutschen Aggression gegenüber Frankreich das neutrale Großherzogtum „unweigerlich in Mitleidenschaft“ gezogen würde (Dostert 1985: 39).

Im Bewusstsein dessen, dass der Status der unbewaffneten Neutralität die Schwäche des Kleinstaates nur verschleiert, versucht die Regierung, Luxemburg vor einem deutschen militärischen Angriff durch die Anwendung einer auf dem Völkerrecht basierenden neutralen Außenpolitik zu schützen. Ergänzt wird diese staatspolitische Richtlinie ab Frühjahr 1940 durch die Errichtung von Beton- und Stahlsperren, die sogenannte Schusterlinie, entlang der deutschen und französischen Grenze (Dostert 1985: 27). Gleichfalls wird die Schaffung von lokalen Bürgerwehren, die eher einen symbolischen Charakter besitzen, beschlossen.

Der Walferdinger Gemeinderat kommt dem großherzoglichen Beschluss nach, wie Nicolas Feider in seiner 2000 veröffentlichten Chronik berichtet: „Am 5. Dezember 1939 ernennt der Schöffenrat zu Mitgliedern dieser Bürgerwehr je vier Personen aus den drei Sektionen [Walferdingen, Bereldingen, Helmsingen]. Zum Kommandanten wird der Schneidermeister Simon Krieg, Kommandant der Feuerwehr, ernannt“ (Feider 2000: 137).

Heute wissen wir, dass das Oberkommando des Heeres (OKH) bereits am 9. Oktober 1939 mit der „Ausarbeitung eines Angriffsplanes unter der Bezeichnung ‚Fall Gelb‘“ begonnen hat, der eine gesamtmilitärische Operation „durch den luxemburgisch-belgischen und holländischen Raum“ vorsieht (Dostert 1985: 39-40).

Auf den Tag genau sieben Monate später, also am 9. Mai 1940, wird schließlich vom OKH der folgende Tag als Angriffstag festgehalten. Die Wehrmacht überschreitet in den frühen Morgenstunden planmäßig die deutsch-luxemburgische Grenze und besetzt bis zum Abend des 10. Mai das luxemburgische Territorium bis auf den Süden des Landes (Dostert 1985: 43). Die Alzettetal-Gemeinde Walferdingen befindet sich demnach in deutscher Hand, wie der Militärhistoriker E. T. Melchers in seiner Studie Schloß Walferdingen als Kaserne beschreibt: „An diesem ersten Kriegsabend wimmelte es im Park und im Schloß von Walferdingen von feldgrauen Soldaten“ (Melchers 1987: 364).

Dabei handelt es sich um Offiziere und Mannschaften der 17. Infanterie-Division, die unter Generalleutnant Loch am Frühmorgen in Grevenmacher über die Grenze gesetzt hat, um auf der vorgegebenen Durchmarschroute schnellstmöglich die belgische Grenze zu erreichen. Melchers zufolge werden folgende Ortschaften durchquert: Wecker, Berg, Roodt, Niederanven, Hostert und Walferdingen. Neben der Walferdinger Schlossdomäne wird die 17. Infanterie-Division auch das sich im Besitz des Arbed-Industriellen Gaston Barbanson befindliche Dommeldinger Schloss für den Divisionsstab beanspruchen (Melchers 1979: 406-407; 1987: 364).

Es handelt sich um zeitlich begrenzte Einquartierungen. Dazu bemerkt Melchers: „Im weiteren Verlauf des Westfeldzuges, als die deutschen Eroberer weiter westwärts zogen, nahmen die Einquartierungen ab und bald sollte das [Walferdinger] Schloß seine frühere Bestimmung wiedererhalten, allerdings unter einem neuen Namen, der sich der Fremdbesatzungszeit anpaßte: L.B.A oder Lehrerinnen-Bildungs-Anstalt“ (Melchers 1987: 364).

Diese Begebenheiten können die Walferdinger so am Abend des 10. Mai 1940 nicht ansatzweise erahnen. Man kann davon ausgehen, dass der Verlauf des ersten Kriegstages und die damit verbundenen Sorgen über die nahe Zukunft die Gemüter sehr beansprucht haben; auch ist zu bedenken, dass die seit Monaten bestehende latente Kriegsgefahr bereits zuvor weit verbreitete Angstgefühle hervorgebracht hat, die seit dem Frühjahr durch Fehlalarme verstärkt werden. Doch bis zum 9. Mai 1940 versucht man sich noch an die Illusion eines fragilen Friedens zu klammern und noch am Vorabend des deutschen Einmarsches freuen manche Walferdinger sich auf die bevorstehenden Pfingsttage.

Freitag vor Pfingsten 1940 in Walferdingen. Erlebte Geschichte von unten

Am 9. Mai darf man noch auf ein schönes Wochenende hoffen. Pfingsten ist angesagt und eine Schönwetterlage soll dazu beitragen, die Feiertage trotz internationaler Kriegswirren angenehm zu gestalten. Sonnige Frühlingstage kündigen zaghaft den Sommer an, und viele Walferdinger mögen sich mit einer gewissen Wehmut an den Sommer im Jahr zuvor erinnern und an die Zentenarfeierlichkeiten der Unabhängigkeit Luxemburgs, die man in Walferdingen am 16. Juli 1939 mit einem historischen Umzug gefeiert hat.

Möglicherweise denken manche Familien darüber nach, am folgenden Dienstag an der Echternacher Springprozession teilzunehmen, andere mögen sich vornehmen, das Wochenende mit einem Kinobesuch „an der Stad“ zu beginnen. Das Marivaux-Kino wirbt zum Beispiel für La Grande Parade de Walt Disney und Sérénade Éternelle mit der bestbekannten Lilian Harvey in der Hauptrolle. Das Luxemburger Wort vom 10. Mai kündigt diese Filme als „Gala-Première“ für denselben Abend um 20.15 Uhr an, „unter dem Protektorat und in Anwesenheit II. KK. HH. der Großherzogin und des Erb-Großherzogs“.

Doch zu diesem Zeitpunkt befindet sich die Großherzogin mit ihrer Familie bereits auf ihrer ersten Exiletappe in Sainte-Menehould und die Walferdinger Bevölkerung blickt auf den ersten Tag einer militärischen Besetzung zurück, die sich 14 Stunden zuvor mit dem Durchmarsch der ersten Vorausabteilungen der 17. Infanterie-Division angebahnt hat.

Wie der zehnjährige Pol Greisch, so vernimmt auch der 16-jährige Robert Geisen zur gleichen Zeit („dat war moies fréi um sechs Auer“) eine merkliche „Onrou am Haus“. Nicht alltäglich wahrzunehmende Motorengeräusche („d’Fligeren sinn eriwwer geflunn“) bewegen ihn dazu, zur nahegelegenen Pfarrkirche zu gehen, wo er dem Küster begegnet und folgende Äußerung vernimmt: „Ech mengen d’Preise kommen“, eine Vermutung, die vom herbeigeeilten Postvorsteher geteilt wird: „Den Telefon fonctionéiert net méi“, „do ass eppes am gaangen“ (Geisen 2000).

Wenig später wird der junge Geisen Zeuge des ersten militärischen Durchmarsches: „Du si se schonn Hëlsem erofkomm.“ Es handelt sich um eine motorisierte Truppeneinheit: „Motocycletten mat Sidecar, Maschinnegewier drop, a si hate giel Dicher op de Motoe leien.“ Dabei erblickt er Soldaten „mat Brëller op, wëll Gesiichter“, sowie Panzerspähwagen. „An du beemol war et roueg“, so die Erinnerungen des 76-jährigen Geisen.

Diese trügerische Ruhe ist von kurzer Dauer. In seiner autobiografischen Erzählung erinnert sich Pol Greisch an die zweite Welle des deutschen Durchmarsches. Nachdem er gegen sechs Uhr die ersten deutschen Vortruppen von seinem Schlafzimmerfenster aus erblickt hat, wird er später auf seinem morgendlichen Schulweg Zeuge folgender Szene: „Op der Kéier bei der Post ass allerlee lass. D’Rëll erof, laanscht de Kierfecht, d’Kierch, laanscht Mees op d’Bréck zou, kënnt ee Gefir um aner: gelunge Schlitter mat hanne schwéiere Ketten drop, hallef Camion, hallef Tank. Déi maachen en onheemleche Kaméidi, bal wéi deen décke Bagger, deen d‘Uelzecht botze kënnt; déi hei sinn awer vill méi gewierweg. Mat Straiss si se gerëscht, an d’Zaldoten hannendrop hunn och greng Pitsch op de Schackoe stiechen“ (Greisch 2000: 68).

Der zehnjährige Primärschüler nimmt sich Zeit, den Durchmarsch der Wehrmacht zu verfolgen. An Schule ist eh nicht zu denken. Sein Schulkamerad Pierre hat ihm bereits mitgeteilt „’t wier keng Schoul, hätt den Här Lährer gesot“, so dass Pol das ganze Geschehen in Ruhe beobachten kann: „E ganzen Trapp Leit steet ewell do z’afen. Am Konsum um Eck geet et an an aus wéi an engem Beiestack: Frae schleefen déck Posche voll eraus“ (Greisch 2000: 69). Auch vernimmt er die zornige Äußerung des „Postperzepters“: „Geschwë sinn d’Fransousen do mat de Fliger: Da kréie se der laanscht d’Panz, déi houere Preisen“ (Greisch 2000: 68).

Auch die Offiziere der 17. Infanterie-Division rechnen auf ihrer Marschroute durch Luxemburg mit dem Eingreifen französischer Flugeinheiten. Um ein schnellstmögliches Vordringen nach Belgien und Frankreich zu gewähren, muss man die strategisch relevanten Standorte der Durchmarschroute absichern, so zum Beispiel die Alzettebrücke in Walferdingen, die schon während des Ersten Weltkrieges von Soldaten des deutschen „Landsturms“ bewacht wurde (Bour 2000).

Greisch weiß sich an folgende Szene zu erinnern: „Vrun der Bréck fiert eng Rëtsch Camionen erof an de Bongert. Mir lafe séier dohi kucke wat lass ass. t’gesäit aus wéi wa s’am Bongert géife campéieren. Déi aner Säit vun der Brëck an der schaarfer Kéier riichten dräi Zaldote schëtzeg e groussegt Machinnegewier op, véier Kanouneleef d’Lucht aus gedréit. Bauesch Mätti seet dat wier eng Flak: ‚Géint d’Fliger‘, seet hien. Da wäerten elo d’Fransousen ënnerwee sinn“ (Greisch 2000: 69).

Wie der Postvorsteher am Frühmorgen, so erwarten auch Mätti Bauer und manch andere Einwohner einen französischen Gegenschlag. Dieser erfolgt in Form einer recht isolierten Aktion am darauffolgenden Tag. Pol Greisch beschreibt diesen militärischen Vorfall in seiner Erzählung folgendermaßen: „An der Nuecht ass et roueg. Géint der Muere knuppt et. Siwemol. Siwe Lächer hu se gewullt, d’franséisch Bommen. Siwen Triichteren hu se gebuert an de Bongert, genee do wou d’Preise campéiert haten. Nëmme just datt déi schonn e Strapp iwwert de Bierg waren“ (Greisch 2000: 70).

Robert Geisen erinnert sich gleichfalls an den Abwurf von Fliegerbomben, jedoch „an der Nuecht, dat muss sou um eng Auer dorëmmer gewiescht sinn“, „just hannert der Bréck“, „siwen, aacht Stéck“ (Geisen 2000). Auch der damals elfjährige Émile Gengler kann sich an ein gezieltes Bombardement bei der Alzettebrücke erinnern, wie er mir in einem rezenten Telefongespräch mitgeteilt hat. Seiner Erinnerung nach wurden die Bomben von einem angeschossenen Flugzeug abgeworfen (Gengler 2020).

Im Laufe des Tages schaut sich Genglers Schulkamerad Pol Greisch den seit dem Vortage andauernden Durchmarsch der Wehrmacht vor seinem Elternhaus im „Walfer Neidierfchen“ an: „Eng laang laang Schlaang vun Zaldoten zu Fouss, zu Päerd, mam Vëlo, an ëmmer erëm dertëscht oppe Camionen, zoue Camionen, keng Kanoune méi, keng Panzer wi gëscht“ (Greisch 2000: 71).

Bei Einbruch der Dunkelheit, so erinnert sich Greisch, sind die deutschen Truppenverbände weitergezogen und „d’Dikrecherstrooss läit nees verschlofen do wéi ëmmer“ (Greisch 2000: 76). Die angehende temporäre Nachtstille wird die Einwohner der Alzette-Gemeinde wenig beruhigt haben. Denn seit dem vorherigen Tage haben nicht nur in Walferdingen und im „Neidierfchen“, sondern in ganz Luxemburg die „dunklen Jahre“ angefangen!

„D’Walfer Neidierfchen 1940-1945“. Mikrohistorische Fallstudien über Luxemburg im Zweiten Weltkrieg

Das „Walfer Neidierfchen“, das nach der Einrichtung der königlich-großherzoglichen Residenz und dem Bau des Bahnhofs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht und sich zwischen den Jahren 1900 und 1940 weiterentwickelt, eignet sich meines Erachtens dazu, mikrohistorische Studien zur Geschichte Luxemburgs während des Zweiten Weltkrieges durchzuführen.

In diesem kleinen Ortsteil sind soziokulturelle und sozialpolitische Begebenheiten vorzufinden, die Erklärungsmomente zur Kollaboration und zur Resistenz sowie zur Zwangsrekrutierung und zur Umsiedlung liefern. Aber auch andere relevante Themenkomplexe kann man am Fallbeispiel „Neidierfchen“ angehen. So wird unter anderem über die Schicksale deutsch-jüdischer Flüchtlingsfamilien berichtet. Auch die L.B.A in der Schlossdomäne wird behandelt, und es wird auf die Beteiligung von 43 Lehramtskandidatinnen Anfang September 1942 am Generalstreik gegen die Einführung der Zwangsrekrutierung eingegangen. Des weiteren werden die Tätigkeiten der VdB-Ortsstelle in der Bahnhofstraße und des Rüstungsbetriebes „AEG Werk Walferdingen“ analysiert.

Die Überschrift des Artikels ist ein Zitat aus Pol Greisch, Fir meng Mamm, 2000.

Der nächstfolgende Beitrag über die „Walfer Juddegaass“ ist für Herbst 2020 vorgesehen. Zeitgleich mit diesem Artikel wird ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis online einsehbar unter www.land.lu.

Claude Wey
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