Kino

Schmelztiegel

d'Lëtzebuerger Land du 24.12.2021

Ein Kameraschwenk gibt den Blick frei auf die Abrissarbeiten der West Side in New York und auf das Plakat zum neuen Bauprojekt – in einem Gestus des großen Optimismus oder der desillusionierten Ironie soll die neu entstehende Wohnstätte den Namen Abraham Lincoln tragen, denn die Erzählung, die sich mit Steven Spielbergs Neuverfilmung des Musical-Klassikers West Side Story von 1961 in diesem Setting entfalten wird, ist die Geschichte eines auf Rassismus basierenden Bandenkrieges. Und es ist die Geschichte einer Liebe entgegen alle Widerstände. Die Verlagerung von William Shakespeares Romeo und Julia in das New York der Fünfzigerjahre bietet den Spiegel der Geschichte Amerikas in all ihrer Widersprüchlichkeit: Es ist je nach Perspektive die Geschichte des hoffnungsvollen Glaubens an ein Werden – oder die vom Aufdecken der großen Lüge vom Schmelztiegel der Kulturen, die die Nation Amerika hervorbrachte.

Die Filmemacher Robert Wise und Jerome Robbins adaptierten das Musical für die Leinwand. Nun, 60 Jahre später, ist Steven Spielberg an der Reihe, der die Handlung nahezu vollständig unangetastet lässt: Tony (Ansel Elgort) liebt Maria (Rachel Zegler). Doch er gehört den amerikanischen Jets an, sie den puertoricanischen Sharks. Sie sind seit jeher verfeindet und kämpfen auf Leben und Tod um die Vorherrschaft im Stadtviertel.

Die Musiknummern von Leonard Bernstein hat Spielberg nahezu umstandslos übernommen; sie strukturieren den Film entlang der Gassen, der Straßenecken und Feuerleitern, um die herum die Figuren agieren. Sie bewegen sich in einem Raum, der West Side, der für sie nicht gesellschaftsfähig sein kann, und weil diese jungen Menschen die multikulturellen Dynamiken für sich nicht akzeptieren können, kann auch die Polizei diese halbstarke, leere und deshalb dumme Gewalt nicht unterbinden. Tony und Maria, die Jets und die Sharks, scheitern, mehr noch als Romeo und Julia bei Shakespeare, nicht an den Beziehungen, Freundschaften oder der Liebe, sondern an den territorial und ethnisch definierten Regeln, gegen die niemand gewinnen kann. Denn darin liegt ja das Tragische: Der Wunsch, den Kampf zu beenden, setzt die Katastrophe erst richtig frei. Der illusorische Glaube an ein Aufbegehren, an einen Triumph über diese Regeln, ja an einen Kampf zur Beendigung aller Kämpfe, das macht ihre kindliche Naivität aus. Darum auch ist die Umsetzung des Stoffes durch Steven Spielberg nicht ganz befremdlich, denn auch dieser Film wäre eben nicht von Spielberg, spüre man nicht die Absenz von Familie, Eltern, ja: Vaterfiguren.

Mit dem Lieutenant Schrank (Corey Stoll) findet die väterliche Autorität ihren pervertiertesten Ausdruck. Und auch deshalb wäre dieser Film nicht von Spielberg, würde er den sozialkritischen Gehalt des Stoffs nicht in eine Traumwelt überführen. Er gibt die theaterähnliche, auf Reduktion abzielende mise-en-scène des Originals auf für eine stärker filmisch ausgelegte Inszenierung, die Spielberg als Filmemacher immer schon auszeichnete: Seine West Side Story wirkt wie in einer gleißend-geschmeidigen Fließbewegung erzählt. Sie ist ein Fest für das Auge, das den reflexiven Textpassagen der Musiknummern beinah entgegenläuft: Farbenprächtig und rasant in der Bewegung, ist seine Anverwandlung mehr auf das überwältigende Staunen als auf das kritisch-reflexive Schauen ausgerichtet.

Dafür fehlt es dem nun 75 Jahre alten Regisseur am Gestus der Fatalität, an der unerbittlichen Härte, die die Tragödie einfordert – zu glanzvoll die schimmernden Bildoberflächen, zu schön das Makeup, zu perfekt die ausgeleuchteten Gesichter. Ja, es dürfte kaum verwundern: Spielbergs Film folgt mehr dem Narrativ des festhaltenden Glaubens denn dem der Lüge.

Gewiss, man kann nicht übertreffen, was einmal bis zur Perfektion gelungen ist, und doch: Spielbergs Neuverfilmung muss sich unweigerlich am Original von Robert Wise und Jerome Robbins messen lassen. Als Auseinandersetzung mit Rassismus und sozialer Ungleichheit ist die West Side Story als amerikanische Tragödie freilich auch heute noch und wieder ganz aktuell.

Marc Trappendreher
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