Weiße Wände, heller Boden, ein Rundtisch, ein Beamer – viel mehr gibt es nicht in der Brillstraße 24. Die letzte Veranstaltung hat hier im April stattgefunden. Kunsthistoriker Enrico Lunghi und Kuratorin Mariette Schiltz sprachen über kunstaktivistische Projekte in Mailand, über die Schnittstellen zwischen Kunst, Architektur, Urbanismus und Aktivismus, darüber, wie Bürger- und Künstlerkollektive den urbanen Raum mitgestalten können. Geographieprofessorin Estelle Evrard brachte einen Perspektivwechsel ins Gespräch. Etwa 30 Leute verteilten sich auf hellen Holzhockern im Raum, die meisten von ihnen Studierende, alle sind mit mindestens einem der Vortragenden bekannt, keine neuen Gesichter für Markus Miessen, der gemeinsam mit seinem Kollegen César Reyes Nájera das Gespräch moderierte. Beide forschen an der Universität Luxemburg zur Stadterneuerung. Das Forschungsgebiet untersucht Strategien, die den urbanen Raum verbessern können. An der Universität Luxemburg ist es an den Architekturmaster angegliedert, doch das Gebiet beschränkt sich nicht auf Architektur, sondern betrachtet Stadtplanung aus verschiedenen Perspektiven.
Seit zwei Jahren veranstaltet Markus Miessen in dem Raum in der Brillstraße solche Seminare und Konferenzen unter dem Titel Cultures of Assembly. Es geht dabei immer um die Nutzung des urbanen Raums – Vorlesungen und Seminare, statt im Hörsaal in der Brillstraße. Diese sporadischen Veranstaltungen waren jedoch nur der Anfang. Im September geht das große Projekt namens Esch Clinics richtig los. Was bisher fast ohne Budget gemeistert wurde, kriegt nun einen festen Rahmen, Geld und Aufwind. Die Esch Clinics sind ein Ort der Reflexion und Forschung: In den kommenden zwei Jahren beherbergt Esch internationale Forscherteams aus verschiedenen Disziplinen, Architekturprofessoren ebenso wie Künstlerkollektive. Alle habe eigene Ziele, Methoden und Schwerpunkte, doch alle arbeiten an einer gemeinsamen Oberfrage: Wie soll die Stadt gestaltet werden, damit eine soziale und ökologische Transition unter Einbeziehung der Bürger gelingt? Esch wird zu einer Modellstadt.
Noch wirkt der steril weiß gepinselte Raum jedoch wie ein Fremdkörper im bunten, rauen Brillviertel, wo der portugiesische Metzger seit Langem leer steht und der Afro-Hair-Shop eine der beliebtesten Anlaufstellen ist; zwischen den bunten Arbeiterhäuser der italienischen Minen- und Stahlarbeiter, die noch immer im Viertel wohnen, und deren Enkelkinder heute auf dem Schulhof der Brillschule am Straßenende lärmen. Auf der Brillstraße spricht man Italienisch und Portugiesisch, Französisch nur mit Menschen außerhalb des Bekanntenkreises.
Inmitten dieser Brillstraße hat Markus Miessen nun ein Stück Belval, ein Stück Rathaus, ein Stück Elite gepflanzt. Ein steriler weißer Raum, in dem internationale Professoren mit Studierenden über die Schnittstellen von politischem Aktivismus und Architektur debattieren. Dieser Raum wird nicht reichen, um Belval näher an Esch zu bringen. Das weiß Markus Miessen. „Wir sind im Gespräch mit unseren Nachbarn – was schwierig ist. Vom Balkangrill und vom African Hair Studio kommen Leute nicht zu Gesprächen über Agonismus. Der Raum ist kein Magnet, der die Leute anziehen soll. Er ist eine Basis, von der aus wir rausgehen. Das ist von Belval aus viel schwieriger.“ Auch der Raum im Brill ist noch in der Forschungsphase, kein Ergebnis, sondern ein Anfang. „Das soll ja nicht nur irgendein Raum von der Uni sein, die da irgendwas in der Stadt macht. Wir wollen lernen, was solche Räume, solche ‘neighborhood spaces’ leisten können, und was sie für eine Rolle im Kontext von der Transition spielen können.“
Seit 2021 leitet Markus Miessen den entsprechenden Lehrstuhl an der Uni Luxemburg. Er trat die Stelle an mit dem Ziel, die Esch Clinics zu schaffen. Der Chair of the City of Esch ist in Belval angesiedelt, an den Fachbereich Geographie und Stadtplanung und den Master für Architektur gekoppelt und von der Stadt Esch finanziert. Ab diesem Jahr gibt es nicht nur für den Lehrstuhl, sondern auch für das Projekt Geld. Der Escher Bürgermeister Christian Weis (CSV) habe das Projekt mitgetragen und das Projekt unterstützt, schon als er noch Sozialschöffe war. Als er das Amt des Bürgermeisters im Dezember antrat, nachdem sein Vorgänger Georges Mischo (CSV) Minister wurde, hat die Stadt Markus Miessen das Budget für die Esch Clinics zugesagt. „Ich glaube, dass das für die Bewohner von Esch auch eine andere Situation wird als früher“, sagt Markus Miessen. Eine sehr große Rolle bei dem Projekt spielt die Teilhabe der Escher Bürger. 65 internationale Forscher in den Gebieten Raumplanung, Architektur, Soziologie, Kunst und Wirtschaft, aber auch Sozialarbeiter, Künstler und Musiker verbringen in den nächsten drei Jahren einige Wochen in Esch, um gemeinsam Strategien zu erarbeiten. Der erste ist David Madden, Assistenzprofessor in Soziologie an der London School of Economics. „Dabei gibt es verschiedene Tiefen der Zusammenarbeit mit Bürgern und lokalen und regionalen Organisationen.“ Die Teilhabe der Bürger an der Entwicklung der Strategien ist beim gesamten Projekt wichtig (d’Land, 13.10.2023).
Am kommenden Montag wird der Raum in der Brillstraße wiederbelebt. Zu Gast sind lokale wie internationale Akteure, um die neue Zusammenarbeit zwischen der Stadt Esch und der internationalen NGO Democracy Next einzuweihen – ein Meilenstein für die Esch Clinics. In den vergangenen Jahren hat Democracy Next erforscht und ausprobiert, mit welchen Mitteln sich Demokratie und Teilhabe der Bürger am besten stärken lässt. Eines der wichtigsten Werkzeuge auf lokaler Ebene sind Bürgerparlamente. In über 700 Städten und Regionen werden politische Entscheidungen schon heute durch Bürgerparlamente beeinflusst. Auch der Klimabiergerrot ist ein Beispiel. Esch soll nun eine von vier neuen Modellstädten werden, die ein solches Bürgerparlament entwickeln und dabei Erfahrungen austauschen. In den kommenden Monaten wird eine repräsentative Gruppe von Bürgern ausgewählt, um an Lösungen zu einem konkreten Thema zu arbeiten. Sie lernen von Experten, diskutieren und erarbeiten schließlich konkrete Handlungsempfehlungen für die lokale Politik. Der schwierigste Schritt kommt dann: der Weg von Bürgerpartizipation hin zu tatsächlichen Folgen. Für Esch ist Democracy Next jedoch zuversichtlich. Die Stadt habe schon durch ihre Bewerbung Offenheit für das Konzept bewiesen. Die Stadt Esch erklärt auf Nachfrage, dass sie das Ziel hat, das Konzept eines Bürgerrates in Esch langfristig zu verankern. Esch hat sich gegen ein Dutzend anderer Bewerber durchgesetzt und wird sich über die Projektlaufzeit hinweg mit drei anderen Städten austauschen. Die litauische Hauptstadt Vilnius ist eine davon, die anderen stehen noch nicht fest, vermutlich wird jedoch eine amerikanische Stadt dabei sein. Schließlich soll das Pilotprojekt in einer möglichst breiten Spanne verschiedener Städte umgesetzt werden, um aus den verschiedenen Erfahrungen zu lernen. Esch ist die kleinste teilnehmende Stadt.
Für Markus Miessen hat Esch damit die perfekte Größe, um stadtplanerische Konzepte auszuprobieren. „Wir wollen aus dem Maßstab von Esch lernen“, sagt er. „Die 15 Minuten-Stadt kann man in Esch zum Beispiel gut erforschen und auf andere Städte dann übertragen.“ Das gleiche Ziel verfolgen auch die Bürgerparlamente von Democracy Next – voneinander lernen, Ergebnisse übertragen, weiterlernen. Auch in einem weiteren Punkt sind sie sich einig: Das Resultat der Arbeit sollen konkrete Änderungen sein. Auch wenn die Esch Clinics ein Forschungsprojekt sind, geht es nicht in erster Linie wissenschaftliche Publikationen. Es geht darum, der Politik konkrete Handlungsempfehlungen vorzulegen. „Es geht nicht darum, dass wir ein bisschen zusammensitzen und reden und dann gehen alle wieder nach Hause. Alle arbeiten in eine Richtung und am Ende machen wir die ‘policy recommendations’.“ Davon sollen so viele Menschen wie möglich hören, damit sie nicht in den Schubladen der angeblichen politischen Unmachbarkeit oder in Ausflüchten verschwinden.