Mit Athena strebt Regisseur Romain Gavras – allein der Filmtitel lässt daran keinen Zweifel – eine Erzählung im Modus der antiken Tragödie an: Mit dem Respekt der Einheit von Raum, Zeit und Ort führt er in medias res in eine Handlung ein, deren initiales Konfliktmoment bereits in der Vergangenheit liegt und nahezu als Aufhänger dasteht. Und doch ist dieses Ereignis im hors champ wohl das bedeutendste Merkmal, das die Verbindung stiftet zwischen Athena und Ladj Lys Les misérables (2019), der als Drehbuchautor an Gavras Projekt mitgewirkt hat. Die Polizeigewalt, die in Les misérables noch das Hauptereignis der Handlung war, nach dem alle Figuren operierten, wird in Athena ausgespart: Ein Video geht da um, das die Tötung des jungen Idir durch drei Polizisten in dem fiktiven Pariser Stadtviertel Athena dokumentiert. Karim (Sami Slimane), einer der drei älteren Brüder Idirs, begegnet dieser Gewalt mit noch mehr Gewalt. Der andere Bruder ist Abdel (Dali Benssalah), Militäroffizier, der versucht die Gewalteskalation zu verhindern, indem er seinen Bruder zur Vernunft aufruft. Mokhtar (Ouasini Embarek) ist der älteste der Brüder, der egoistische Drogendealer des Viertels, der seine ganz eigenen Ambitionen verfolgt. Aus dieser dreiteiligen internen Fokalisierung, die nie das große Ganze, die Gewaltausschreitung in den Straßen aus dem Blick verliert, macht der Zuschauer diesen Abstieg in die Hölle mit. Die Gewaltspirale, ist sie erst einmal freigesetzt, so will Romain Gavras uns sagen, ist nicht mehr aufzuhalten. Wie bereits in Les misérables wird ein semi-dokumentarischer Stil als Zugang in diese Welt gewählt, die mittels Plansequenzen, und Dolly- und Handkamera eine Unmittelbarkeit suggerieren will, der man sich ausgeliefert fühlen soll. Hochstilisierte Passagen aus Zeitlupe und chorlastiger Musik, heben das Ganze dann nahezu ins Sakrale und bieten die Lektüre eines ‘heiligen Glaubenskrieges’ an. Tatsächlich lassen sich Parallelen zur Erstürmung Jerusalems durch die Christen und die ikonographische Physiognomie Karims als eine Art Nachfahre des überlieferten Bildes Saladins anschlagen, die freilich nicht zu überstrapazieren sind.
Allein: Der Film bietet keine Ansätze zur Klärung dieser unstillbaren Wut und Perspektivlosigkeit der französischen Jugend – die Bandenkriminalität, die Ghettoisierung des Viertels, aber auch die Verzweiflung, die Angst und die Unsicherheit der Unruhestifter stehen da wie eine gesetzte, unumstößliche Tatsache. Athena scheint sich denn auch nicht recht entscheiden zu können zwischen der Problematisierung seiner Motive – es wird sehr viel über Loyalität und Zugehörigkeit, sowie der Sinnlosigkeit von Rache und Gewalt geredet – und der Form der audiovisuell anziehenden, weil ungebrochenen Actionszenerie. Es wirkt beinahe so als sei das Filmteam rund um Romain Gavras vernarrt in die heraufbeschworene Ästhetik aus Feuer und Rauch der Molotowcocktails. Nicht so sehr ist es die Polizeigewalt die da angeprangert wird, zumal sie am Ende dann doch keine ist, vielmehr ist es der bedrohliche Ort selber, der zur Gewalt führt und den Menschen ihre kommunikativen Verständigungsangebote verwehrt. In Athena leben die Menschen in einer Welt, die nach der Ursache für ihre Katastrophe genauso vergeblich suchen wie nach Erlösung. Da entsteht buchstäblich viel Rauch um Nichts.
Athena reiht sich in eine lange Linie des französischen Kinos ein – La haine (1995), Les misérables (2019), Bac nord (2020), die von einer tiefen Verunsicherung in der Gesellschaft sprechen. Romain Gavras widmet sich dieser Verunsicherung mit all ihren Widersprüchen mit einer Mischung aus Faszination und Grauen, Neugier und Erschrecken; die endlose Spirale von filmischer Gewaltphantasie und real behaupteter Gewalt wird auch hier weitergesponnen.