Mit ihrem Gertrude Stein Projekt tischt Eva Paulin ein gar schwer verdauliches Damengedeck auf. Dass das Mahl nicht ganz fertig gekocht ist, lässt schon seine Ankündigung vermuten: um ein "Projekt“ handelt es sich, es geht um die "Suche nach der Identität“, um den "Versuch ein Porträt der Autorin und ihrer Literatur zu erschaffen“ und dies auf einem "labyrinthischen Weg durch das Museum". Zum Ersten Gertrude Stein, zum Zweiten ihr Werk, zum Dritten der Zuschauer auf der Jagd im Museum. Zum Ersten: Gertrude Stein? Die Dame kennen die meisten vom Namen her. So wie andere Schriftstellerinnen ist Gertrude Stein den vielen Bildungsbürgern ein vager Begriff, doch ihre Werke gehören nicht gerade zur Standardliteratur. "Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose…" ist von Gertrude Stein – hätten Sie’s gewusst? Mehr als durch ihr literarisches Schaffen machte sie ihre Vita zur Kultfigur der Kunstszene einer bestimmten Zeit: 1874 in Pennsylvania als jüngstes Kind einer deutsch-jüdischen Familie geboren, immigrierte sie 1903 mit ihrem Bruder Leo nach Paris. Dort eröffnete Stein einen Salon, der sich alsbald zum Zentrum der schriftstellerischen und künstlerischen Avantgarde entwickeln sollte. Ihre langjährige Freundschaft mit Picasso ist bekannt, aber auch Künstler wie Matisse, Cézanne, Gauguin oder Daumier gehörten zum erlesenen Kreise des Salons. Apollinaire, Braque, Hemingway oder Fitzgerald verkehrten zeitweise hier. Gertrude Stein war eine große Persönlichkeit, die sich von den meisten ihrer Zeitgenossen unterschied: sie war Frau, jüdisch, lesbisch und hoch gebildet. Wer dieses und mehr über die unbekannte Frau hinter dem bekannten Namen erfahren möchte, wird bei der Paulin-Inszenierung allerdings nicht auf seine Kosten kommen. Genauso schemenhaft wie auf dem Plakat, wandelt der Geist Gertrude Steins durch das "Projekt". Ein einziges Mal wird ihr Name genannt – als sie mit Picasso und Alfred Whitehead zum "Genie" erkoren wird – ansonsten ist die historische Figur in dem Theaterstück, anders als es der Titel verspricht, kein Thema. Lediglich verschiedene Kostüm- und Musikelemente verweisen auf das Leben im Paris der zwanziger Jahre – "When Paris was a woman".Zum Zweiten: Gertrude Steins literarisches Werk. Nach eigenen Aus-sagen wollte sie den Kubismus der abstrakten Malerei in die Literatur übersetzen. Ihr radikal avantgardistischer Stil ist von ständigen Wiederholungen geprägt – ohne Komma, ohne Strich oder irgendwelche Interpunktion reihen sich Worte wie fliegende Gedanken aneinander. Wenngleich wenig gelesen, wird ihrem Werk doch ein bedeutender Einfluss auf die Entwicklung der Literatur des 20. Jahrhunderts beigemessen. Besonders die frühen Texte, die im Orginal auf Englisch geschrieben waren, gelten als sperrig und schwer verständlich. Selbst ihre bekanntesten Werke wie Three Lives (1909) oder The Making of Americans (1925) sind in erster Linie aus literaturhistorischer Sicht interessant. Was Eva Paulin schließlich zur Aufführung bringt, sind verschiedene Textcollagen in deutscher Übersetzung, vornehmlich dem 1941 erschienenen Roman Ida entnommen. Texte, die sich nicht gerade besonders zur theatralischen Darbietung eignen, zumal sich auch die Frage nach der Qualität der Übersetzung der komplexen Wortreihen stellt.Zum Dritten: Gertrude Stein Projekt, unter der Regie von Eva Paulin. Drei Schauspielerinnen jagen die Zuschauer durch die Ausstellungsräume des Geschichtsmuseums der Stadt Luxemburg, über Treppen und Stiegen, von unten nach oben, auf der Suche nach...? Nach "Identität"? Nach "Gertrude Stein"? Nach Verstehen, nach Sinn, nach Ida, nach Eva. Doch bis zuletzt bleibt dem Publikum der tiefere Sinn der atemlosen Aufführung verborgen. Vielmehr versperrt eine vermeintlich originelle Inszenierung in den alten Mauern des Museums den möglichen Genuss einer Darbietung des literarischen Werks. Warum die Regisseur gerade diesen Aufführungsort und gerade jene Textauszüge gewählt hat, bleibt ebenfalls unklar. Die Behauptung, Steins Texte hätten "nichts von ihrer Zeitlosigkeit eingebüßt" (Internetseite), mag verwundern, angesichts der Tatsache, dass die Schriftstellerin heute fast ausschließlich Gegenstand langatmiger Rezeptionsstudien von Spezialisten der Literaturgeschichte ist. Das Vorhaben, die beeindruckende Literatin einem Publikum näher zu bringen, das das Stein’sche Schaffen nicht näher kennt, und sei es durch eine originelle Rauminszenierung mit Musikern und Schauspielern, ist an sich lobenswert. Doch sollte dem Mahle das Beiwerk nicht fehlen. Seit den frühen neunziger Jahren gibt es im deutschsprachigen Raum diverse Gertrude-Stein-Projekte mit Musik, Tanz und Schauspiel, deren Ziel eine bessere Rezeption des sperrigen Werkes ist. Diesen Projekten, in Stuttgart, in Culoz oder in Hamburg war gemein, dass sie von Konferenzen, Ausstellungen und erklärenden Schriften begleitet waren. Fragmente allein genügen nicht.
Gertrude Stein Projekt, von Eva Paulin, mit Berit Fromme, Ingrid Müller-Farny und Pilar Murube, im Musée d’Histoire de la Ville de Luxembourg; weitere Vorstellungen am 12., 13. und 15. November um 20 Uhr. Karten können im Internet über www.theater-vdl.lu oder per Telefon unter der Nummer 47 08 95-1 bestellt werden.