Das übergeordnete Kindeswohl sei handlungsleitend für das Ombudsrechtskomitee für Kinderrechte und wird es auch für den neuen Kinderrechtsbeauftragten sein. Das unterstrich die Abgeordnete und Berichterstatterin Carole Hartmann (DP) bei der Anhörung in der Chamber zur Reform des ORK vor zwei Wochen. Künftig soll, statt eines Komitees, ein/e Kinderbeauftrage plus ein Team von MitarbeiterInnen „mit dem Finger auf das zeigen, was noch nicht so klappt“ und sich für die Interessen der Kinder in diesem Land einsetzen – so wie es in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die Luxemburg ratifiziert hat, in Artikel 3 vorgesehen ist. Der Kinderbeauftragte René Schlechter nimmt heute schon Beschwerden entgegen und gibt Empfehlungen ab, wenn er systematische Kinderrechtsverletzungen bemerkt. 129 neue Fälle hat das ORK 2019 behandelt, rund 250 Kinder und Jugendliche waren darin involviert.
Mit der Reform bekommt der oder die Kinderrechtsbeauftragte nicht nur mehr Ressourcen, das begleitende Expertenteam wird von drei auf sechs verdoppelt und der gesamte Dienst soll in neue Räume in der Arler Straße ziehen. Dann wird endlich Platz sein für die vielen Kartons, die sich derzeit in dem engen Lokal am Boulevard d’Avranche stapeln. Auch hat der/die Kinderrechtsbeauftragte künftig mehr Geld zur Verfügung, das Budget wird von heute auf angehoben, um künftig mit vier Arbeitsbereichen funktionieren zu können: Neben der juristischen Beratung und der Ausarbeitung von Gutachten zu Gesetzestexten, die Kinder und ihre Familien betreffen, der Fallbearbeitung und der Verwaltung, will der Kinderrechtsbeauftragte künftig sein Profil nach außen schärfen. „Das haben wir bisher nicht so gemacht“, gibt Schlechter zu. Er selbst wird zum Herbst in den Ruhestand gehen, die Reform war sein Herzensprojekt.
Für die Kinder in diesem Land ist das erst recht ein Fortschritt. 18 Jahre, sozusagen mit der eigenen Volljährigkeit, erhält die Anlaufstelle die notwendigen Mittel, um sich stärker noch als bisher für Kinder einsetzen zu können – dies losgelöst von der Regierung. Ernannt wird die neue Beauftragte von der Abgeordnetenkammer und ihr, also den Bürgern, muss sie auch Rechenschaft ablegen. „Das erlaubt dem Ombudsman, seine Aufgaben in voller Unabhängigkeit von der Exekutive zu erfüllen“, hatte Berichterstatterin Hartmann betont, etwas das auch Françoise Hetto-Gaasch von der CSV ausdrücklich begrüßte.
In der Reform steckt noch mehr: Beim Ombudsman beschweren dürfen sich künftig nicht nur Kinder und Jugendliche sowie deren sorgeberechtigten Eltern. Entgegen dem Vorschlag vom Erziehungsministerium, dem das ORK bislang unterstellt war, wurde das Beschwerderecht auf alle Angehörigen und Dritte erweitert: Haben sie einen begründeten Verdacht, die Rechte eines Kindes würden verletzt, können sie sich an die Ombudsstelle wenden – ohne selbst sorgeberechtigt sein zu müssen. Gibt es konkrete Verdachtsmomente kann der Kinderrechtsbeauftragte zudem von sich aus aktiv werden. Um diesen Punkt war gerungen worden; der Staatsrat hatte für ein restriktives Initiativrecht nach französischem Vorbild plädiert. Die Regierungsmehrheit hat aber, mit Unterstützung von CSV und déi Lénk, sich für eine weite Auslegung entschieden.
Die Stärkung des ORK ist nicht der einzige Moment, der Kinderrechtsexperten derzeit optimistisch in die Zukunft schauen lässt: In den vergangenen Jahren haben sich die Rechte von Kindern und Jugendlicher deutlich verbessert: beispielsweise durch die Einführung eines Kinderanwalts. Der Rechtsbeistand steht Kindern vor Gericht und auch in schwierigen Scheidungsfällen zur Seite und soll seinen Interessen Gehör verschaffen. Mit dem neuen Scheidungsrecht kam das gemeinsame Sorgerecht und die explizite Aufforderung an die Justiz, die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes zu hören und sie in die Entscheidung einzubeziehen.
Gestärkt werden sollen die Rechte von Luxemburgs Kindern und Jugendlichen auch mit der Reform des Jugendschutzgesetzes von 1991, die nach langem Hin und Her zwischen Justizbehörden und Sozialsektor endlich auf den Schienen ist. Justizministerin Sam Tanson (Déi Gréng), die sich von der internationalen Jugendrechtsexpertin Renate Winter beraten lässt, hat entschieden: Es wird zwei Texte geben; einen, der den Jugendschutz und insbesondere die Schutzmaßnahmen für Kinder in Not regeln soll. Und einen zweiten, der sich an Jugendliche und Heranwachsende wendet, die straffällig geworden sind. Dann soll ein für alle Mal verbindlich geregelt werden, dass Minderjährige nicht in ein Erwachsenengefängnis eingesperrt werden dürfen.
Konfliktfrei ist der Prozess nicht, aber Insider sind optimistisch, dass mit etwas Fingerspitzengefühl am Ende ein Text stehen könnte, mit dem Luxemburg zu den fortschrittlichen EU-Ländern in Sachen Kinderrechte aufschließen wird. Teilnehmer der Beratungen zwischen Ministerin Tanson, Renate Winter und Vertretern der Jugendgerichtsbarkeit berichteten anschließend, „auf allen Seiten herrscht mehrheitlich die Einsicht, dass es klarere Rechtsgarantien braucht“.
Ein wichtige Änderung betrifft das elterliche Sorgerecht: Bisher war mit der gerichtlichen Einweisung in ein Erziehungsheim oder in die Jugendpsychiatrie der automatische Transfer des elterlichen Sorgerechts an die Institution verbunden. Die paternalistische Regelung ist in der Form einzigartig in Westeuropa und wird, neben der Einsperrpraxis von Minderjährigen seit Jahren von Rechtsexperten kritisiert, denn sie führt zu vielen Spannungen in ohnehin belasteten und oftmals auch benachteiligten Familien. Es sind Familien- und Kinderpsychologen wie Gilbert Pregno, die über Jahre (vergeblich) darauf hinwiesen, dass der automatische Entzug gegen elterliche Grundrechte verstößt: Eltern haben das prinzipiell Recht und die Pflicht für das Kind verantwortungsvolle Lebensentscheidungen zu treffen; zumal, wenn sie sich nichts zuschulden haben kommen lassen. Geradeso wie Kinder ein Recht auf Kontakt zu ihren Eltern haben; außer bei Gefahr fürs Kindeswohl, also bei Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung ist der Entzug des Sorgerechts durch ein Gericht gerechtfertigt, muss aber genau begründet werden.
Doch mit einer Gesetzesänderung allein wird es nicht getan sein, um die oftmals paternalistische bevormundende Praxis in Justiz und in den Institutionen dauerhaft zu verändern. Als der damalige Justizminister Félix Braz (Déi Gréng) seinen Entwurf zu einem neuen Jugendschutz vorstellte, äußerten sich viele Pädagogen und Erzieher besorgt, weil sie schwierige Eltern fürchteten. Tatsächlich ist die Zusammenarbeit mit Eltern nicht immer einfach, vor allem wenn sie sich nicht verstanden fühlen und eine Entscheidung für ungerechtfertigt halten oder aus anderen Gründen nicht nachvollziehen können. „Um den Sektor darauf vorzubereiten, wäre es gut, beste Praktiken und funktionierende Modelle zu zeigen“, schlägt Gilbert Pregno gegenüber dem Land vor. Weiterbildungen in der Zusammenarbeit werden heute bereits angeboten. Außerdem: „Wenn es in anderen Ländern geht, warum sollte es in Luxemburg nicht gehen?“, fragt Schlechters juristische Beraterin Françoise Gillen.
Bleibt ein legislativer Baustein, den Kinderrechtler ebenfalls seit Jahren fordern, der bislang fehlt: die Einschreibung der Kinderrechte in die Verfassung. „Wir wissen nicht, woran wir mit der Forderung sind“, bedauert René Schlechter. Seine Hoffnung: Dass mit dem Brachliegen der Verfassungsreform das Anliegen, Kinderrechte verfassungsrechtlich zu verankern, neu geprüft werde, so wie das derzeit in Deutschland der Fall ist. Warum das wichtig sei? Die in der UN-Konvention verbrieften Rechte sind längst nicht immer Realität, auch in Luxemburg nicht. Das Züchtigungsverbot wurde zwar im Jugendhilfegesetz verankert. Aber weder sieht das Strafen für den/diejenigen vor, der/die sein Kind schlägt, noch gibt es bislang Untersuchungen, wie viele Kinder daheim von ihren Eltern geschlagen werden. Vielleicht kann die neue Jugendstudie der Uni Luxemburg zur Erhellung beitragen. Als in Oberösterreich nach fast 20 Jahren Gewaltschutzgesetz Wissenschaftler Schüler dazu befragten, antwortete immerhin fast die Hälfte der Befragten, dass sie in der Familie regelmäßig geschlagen würde, wobei die Watsch’n, wie die Ohrfeige euphemistisch heißt, die am häufigsten berichtete Form elterlicher Gewalt war. In Luxemburg hilft ein Leitfaden Lehrern, Familienangehörigen und anderen Missbrauch und Misshandlung besser zu erkennen und nennt Behörden, bei denen sich ZeugInnen melden können; im Rahmen der neuen Opferambulanz dokumentieren Mediziner und PsychologInnen Spuren physischer und psychischer Gewalt.
Doch die besten Gesetze helfen nicht gegen die sich immer weiter öffenende Schere zwischen Arm und Reich, die insbesondere Kinder trifft, daran erinnerte die Grüne Josée Lorsché in ihrer Rede vor dem Parlament. Mit 20 Prozent liegt die Armutsrisiko für Kinder im reichen Luxemburg beschämend hoch. Armut aber, das zeigen Studien, ist oft die Ursache für sozial auffälliges Verhalten bis hin zur Straffälligkeit. Wer Kinder und Jugendliche schützen und ihnen helfen will, Perspektiven für eine aussichtsreiche Zukunft zu entwickeln, sollte ihnen also zuallererst ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.