Die Filmgeschichte hat schon einige Filmemacher in höhere Sphären gehievt, und das Maskulinum ist bei dieser Ansage durchaus bewusst verwendet. Sind es doch männliche Regisseure, die nicht nur verehrt, sondern in unantastbare Messias-Figuren verwandelt werden. Ingmar Bergman gehört zweifelsohne zu dieser Kategorie Filmemacher. Jetzt wagt sich die französische Regisseurin Mia Hansen-Løve mit ihrem neuen Film Bergman Island umgangssprachlich sowie wortwörtlich in das Revier des 2007 verstorbenen schwedischen Meisters.
Hansen-Løve inszeniert ein Paar aus Filmemachern, das sich zu Beginn des Films auf der schwedischen Insel Fårö wiederfindet. In dem Inselidyll, in welchem Bergman ab den 1960-ern lebte, arbeitete und gestorben ist. Das Paar aus Tony (Tim Roth) und Chris (Vicky Krieps) muss sogar unter der Decke des Betts schlafen, in dem sich Liv Ullman und Erland Josephsons Figuren aus Szenen einer Ehe zerfleischt haben. Im Film also, der scheinbar Tausende von Paare in die Scheidung getrieben hat. Die beiden sind vor Ort, um während von der Ingmar Bergman Stiftung gesponserten Künstlerresidenzen an ihren jeweiligen Drehbüchern zu arbeiten.
Er, der ältere unter den beiden, ist eingespielter, was seine Arbeit angeht. Tony kommt gut voran und hat links und rechts Zeit, um mit dem Fahrrad zu Frage-und-Antwort-Runden einer kleinen Retrospektive seiner eigenen Filme zu flanieren.
Chris hingegen steckt fest. Die Arbeiten an ihrem Drehbuch kommen nicht voran, sie vermisst die gemeinsame Tochter, die bei der Schwiegermutter untergebracht ist, und macht sich Gedanken über ihr Leben mit Tony. Überhaupt bedrückt sie Fårö mehr, als das Himmelblau, die Meeresbrise und die pittoresken Landschaften sie inspieren würden. Und zu allem Übel scheint Fårö ihr unablässig den Namen Ingmar Bergman ins Ohr zu hauchen. „How can I sit here and not feel like a loser?“, so Chris gegenüber ihrem Partner. Eines Nachmittags geht das Paar spazieren und Chris erzählt von ihrer Geschichte, die sie versucht, zu Papier zu bekommen. Mit der Aussicht nach moralischer sowie konkreter Unterstützung.
Kenntnisse der Filmografie Ingmar Bergmans sind trotz des unmissverständlichen Titels des neuen Films von Mia Hansen-Løve völlig unerheblich. In Bergman Island geht es – eigentlich – gar nicht um den schwedischen Regisseur. Hansen-Løve macht kein Hehl daraus, dass man ihren Film auf ihre Person und ihre langjährige Beziehung zu Olivier Assayas zurückführen kann. Sie war mehrmals selbst auf Fårö, um zu arbeiten, und es war auch dort, wo sie das Projekt und das Drehbuch zu diesem Film konkretisierte.
Die Regisseurin führt ihr Publikum zu Beginn jedoch auf eine falsche Fährte. Mit einer studentisch didaktischen Herangehensweise – wenngleich durchaus unterhaltsam – zeichnet sie ein Bild von einer Insel, die komplett im Bann des verstorbenen Regisseurs Bergman steht. Kein Satz wird zu Ende gebracht, ohne dass der Name eines Bergman-Films fällt oder der Filmemacher selbst zum Thema wird. In einem Souvenirladen kann man sogar Bibi Anderssons Sonnenbrille kaufen und Plätze für eine Ingmar-Bergman-Bussafari reservieren, bei der man zu Original-Bergman-Drehorten kutschiert wird. So weit, so Disney.
Bergman Island wechselt jedoch plötzlich das formale Register, wenn Vicky Krieps’ Figur Chris von ihrer Filmgeschichte erzählt. Erst dann, als Film im Film sozusagen, offenbart Hansen-Løve ihre künstlerische Absicht bei diesem Filmprojekt. Und weil die Filme der Regisseurin so persönlich sind, ist es eben nicht nur ein Film-im-Film-Setup, sondern eher eines im Stil von Film-im-Film-in-der-Realität. War zu Beginn noch Greta Gerwig für die Rolle von Chris vorgesehen (Gerwig spielte in Hansen-Løves Eden, musste jedoch wegen ihrer Regiearbeit an Little Women abspringen), so ist mit dem Gespann Wasikowska-Krieps-Hansen-Løve die Kopie einer Kopie perfekt. Wir wissen, dass Hansen-Løve mit Assayas ein Kind hat und nicht mehr mit ihm zusammenlebt, aber Bergman Island ist mehr als nur die offensichtliche Therapiestunde. Der Film versucht sich in einer Reflexion über die Richtigkeit von Lebensentscheidungen und die Legitimität eines nostalgischen Nach-Hinten-Schauens. Parallel dazu kann man gerade den neuen Film von Hansen-Løves künstlerischen Seelenverwandten Joachim Trier The Worst Person in the World im Kino sehen. Beide Filme teilen sich nicht nur die melancholisch-existenziell verhandelten Themen, sondern auch den überaus köstlichen Anders Danielsen Lie im Casting.
Bergman Island formuliert jedoch auch den Wunsch, eine eigene künstlerische Stimme zu finden, ob nun im Schatten eines Lebenspartners oder in dem eines wirklichen Meisters. Und dann muss – wenn auch voller Liebe und alles andere als zynisch – gesagt werden: Fuck you, Assayas! Fuck you, Bergman!