Kino

Entstalinisierung

d'Lëtzebuerger Land du 19.11.2021

Eine Panorama-Aufnahme der Kathedrale von Nowotscherkassk im Westen Russlands, ein Fahrradfahrer passiert einen der umliegenden Triumphbögen. Ein Reinigungsfahrzeug säubert den Boden vor dem Gebäude der Stadtverwaltung. Zu den Schwarzweiß-Bildern läuft die Nationalhymne der Sowjetunion. Ein Eindruck von allzu perfekter Harmonie. Nur die eingeblendete Zeittafel mag für Beunruhigung sorgen: 1. Juni 1962, der Vorabend der Arbeiterunruhen, die als das Massaker von Nowo-tscherkassk in die Geschichtsbücher eingehen werden.

Regisseur Andrej Kontschalowski nimmt sich mit seinem neuen Film Dear Comrades! dieses Ereignisses an und zeigt eine aufreibende Nachstellung dieses Blutbades, als Soldaten der Roten Armee und KGB-Scharfschützen das Feuer auf unbewaffnete streikende Arbeiter eröffneten und schätzungsweise achtzig Menschen töteten. Kontschalowski arbeitet auf dieses Ereignis hin und bindet sein Publikum an die Perspektive von Ljuda (Julija Wisotskaja), einer kommunistischen Parteifunktionärin und alleinerziehenden Mutter, die mit ihrer 18-jährigen Tochter Swetka (Julija Burowa) und ihrem alten Vater (Sergej Erlish) in einer kleinen Wohnung in Nowotscherkassk lebt.

Es herrscht schreckliche Lebensmittelknappheit, Chruschtschow lässt wegen der Versorgungskrise die Löhne senken, die Preise steigen. Die Arbeiter der Lokomotivfabrik sind empört, das Unheil bahnt sich an, doch Ljuda ist ein loyales Parteimitglied, das sich insgeheim nach der guten alten Zeit unter Josef Stalin sehnt, als alles besser zu sein schien.

Die plötzlichen Lohnsenkungen, die Preiserhöhungen für Lebensmittel und die sinnfreie Behauptung der Partei, dass diese Kombination den Druck auf die Staatsfinanzen verringern und daher langfristig mehr Überfluss schaffen werde, sind nur Ausflüchte, um sich der Realität nicht stellen zu müssen. Ebenso sind die Staatsmaßnahmen zur Vertuschung der Gräueltaten lediglich äußerer Ausdruck für die innere Verdrängung, die Kontschalowski mit Dear Comrades! beschreibt: Ein System, das die dem Staat immanenten Fehler nicht wahrhaben will. Täuschung, Leugnung und Gewalt bestimmen so das Geschehen und schaffen eine Atmosphäre von alltäglicher Selbstverständlichkeit.

Aber nicht so sehr die körperliche Gewalt sorgt für Entsetzen, zumal der Regisseur sie ganz im Off-Raum belässt: Das eigentliche Unbehagen liegt in der Sprache, in den immer wiederkehrenden Anreden als „Kamerad“, „Genosse“ – ein steifes Sprachrepertoire, das auf die Uniformierung zielt. Wir befinden uns so in einem Geflecht von Nachlässigkeit, Paranoia und stumpfer Bürokratie, das in den Massenmord führt. Die Nachkriegsgesellschaft, die Kontschalowski zeigt, ist gefangen in einem Zwischendrin, in der Unmöglichkeit einer Rückkehr zum Stalinismus, aber auch in der Ungewissheit vor einem nicht bestimmbaren Morgen. So hält sie an einem Status quo fest, den sie als Übergangslösung begreift. Wie absurd das ist, wird am deutlichsten, zur sanft-eingängigen Musik der Popkünstlerin Gelena Welikanowa Menschen auf den Straßen erschossen werden.

Julija Wisotskaja ist eine langjährige Kontschalowski-Darstellerin. Sie spielt mit eiserner Miene und stierem Blick. Sie exemplifiziert eine Nachkriegsgesellschaft, die sich in ihrem Mangel an Verständigungsangeboten und in ihren Kommunikationsstörungen völlig verstrickt hat und in der das Subjekt sich vor lauter Treue zur Partei aufzulösen droht. Diese Auflösung des Subjekts nimmt Kontschalowski in seiner mise-en-scène sehr genau: Immer wieder lässt er seine Darsteller, besonders aber Wisotskaja, aus dem Bildkader fallen, schneidet sie an und drängt sie so aus dem Bildinhalt. Wird sie dagegen bildfüllend gezeigt, geschieht das nicht ohne gezielte Aufmerksamkeitslenkung auf die unzähligen inneren Einrenzungen: durch Spiegel-, Tür- oder Fensterrahmen.

Dieses reflexive Spiel mit der Figurenanordnung im Raum und die subtilen Strategien zum Einbeziehen des Publikums – etwa durch direkte Blicke, nur knapp an der Kamera vorbei – zielen auf Bewusstmachung. In diesem Sinne ist Dear Comrades! europäisches modernistisches Kino in bester Tradition.

Marc Trappendreher
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