Ein Lenztag aus dem Bilderbuch, mit Blau und sogar schon ein bisschen Blüh und nicht nur Sprüh vom Traktorbauern. 1. Mai auch noch! Zur Feier des Feiertages holt uns meine Freundin aus dem Nachbardorf mit ihrem kleinen Sohn ab und wir fahren mit dem Auto in die Stadt, etwas ganz Besonderes.
Wir durchqueren ein paar Klimazonen, es blüht zunehmend explosiv. Auf der Corniche laufen wir auf und ab, die Kinder müssen sich mein Allesschönfinden anhören, dafür gibt es dann Eis.
Auf der Rückfahrt im Auto schalten wir das Radio ein. Ein bisschen Musik, dann Wolke. Nicht gerade aus blauem Himmel, seit Tagen spukt sie in den Nachrichten rum, sie hat einen Vorhang aus Eisen überwunden. Wolkendetektiv_innen sind ihr auf der Spur, aber die Aussagen sind wolkig. Wir stellen das Radio lauter. Heute Nachmittag wird sie über Luxemburg erwartet.
Am Nachmittag sitzen wir mit Freunden am großen Holztisch im Hof, als die ersten fetten Regentropfen ins Müsli platschen. Panische Menschen-evakuierung und sofortige Müsli-Verbannung, nur wohin? Ein Freund bleibt trotz meines Gezeters auf der Holzbank liegen mit weit geöffnetem Mund, pädagogisch kontraproduktiv fängt er mit der Zunge Regentropfen auf. Anschließend wird meine noch nicht einjährige Tochter die Sohlen seiner draußen verbannten Schuhe abschlecken, Sohlenabschlecken war damals für sie ein kulinarisches Highlight.
Es ist soweit, sie ist da! Radio Lëtzebuerg meldet das, und auf ARD, dem einzigen Sender, den ich mit meinem Uraltgerät empfange, empfangen mich besorgte Gesichter. Ich stecke gleich alle unter die Dusche.
In den nächsten Tagen und Wochen geht es nicht mehr nur um finnisches Moos und norwegische Rentiere. In meinem meist verschneiten Fernseher stellen deutsche Moderator_innen tickende Salatköpfe vor, sie sind mitten unter uns. Becquerel und Strontium und Cäsium und Halbwertzeit fließen in unsere Gespräche ein, wir reden über nichts anderes. Ein Gau ist plötzlich keine Gebietseinheit in Nazi-Deutschland mehr, sondern etwas, in dem wir uns befinden. Nein, sogar in einem Supergau.
Ich rufe die Hotline an, die vielleicht nicht so hieß. Ein Kind hat die Katze gestreichelt. Die Katze hat sich aufs Bett gelegt. Wir haben Salat gegessen. Ein Kind hat einen Apfel gegessen. Wir haben Milch getrunken vom Bauern, von der Kuh. Ein Kind ist in eine Pfütze getreten. Ein Kind fiel in den Schlamm. Ein Kind schlief bei offenem Fenster. Ein Kind hat den Finger in den Mund gesteckt. Die Wäsche hing auf der Wäscheleine. Ich habe den Hof gefegt. Wir haben uns auf die Erde gelegt. Ich habe den Inhalt meines Staubsaugerbeutels gesnifft, wie schaut meine Lebenserwartung aus, angesichts der Halbwertzeit von Plutonium, da habe ich doch gar keine Chance, voll unfair?!
Der Hotline-Herr ist sehr verständnisvoll, sogar beruhigend. Alle würden nicht Krebs kriegen, nicht mal die meisten, jedenfalls nicht deshalb! Im deutschen Fernsehen sagt ein Wissenschaftler, jedes dritte Kind würde an Leukämie erkranken. Kälber mit mehreren Köpfen werden uns gezeigt, born around Chernobyl. Schwarze Erde würde das bedeuten, schon in der Apokalypse gebe es einen Hinweis auf das, was uns erwartet, murmeln die Eingeweihten.
Es gibt Frauen, die Abtreibungen vornehmen. Wir ernähren uns von Miso wie die Mönche nach Hiroshima.
Wir sehen eine so genannte Geisterstadt, in die Kamikaze-Reporter_innen sich wagen. Traurige Unterhosen auf Wäscheleinen, traurige Puppen in Kinderzimmern. Wir hören von wasserkopfgroßen Kartoffeln auf einsamen Feldern und wuchernden Wäldern voller Zauberpilze. In diesen mythischen Wäldern leben noch ein paar störrische Alte, runzlige Weiber in Märchenbuch-
tracht, alte Männer, die essen, was in ihrem Garten wächst.
In meinem Mini-Dörfchen wühlt neben der Kapelle die alte Frau tief versunken in der Erde. Ich spreche ihren ausladenden Hintern an, sie wendet sich um, zu mir und den Kindern, die strenges Erde-Anfassen-Verbot haben. Keine Angst vor Atom? Sie zuckt verächtlich mit den Schultern und wendet sich Wichtigerem zu.