Die kleine Zeitzeugin

Fluss mit F.

d'Lëtzebuerger Land vom 03.04.2020

Stadt. Land. Fluss. Soll mit dem Buchstaben deines Vornamens beginnen. Aha, Mosel. Und? Nichts und. Einfach so.

Zumindest in meiner Peer Group wird eifrig, wie einst mit zehn, Fernande Frankreich Fulda ausgefüllt und bekanntgegeben. Haben die keine anderen Probleme? Zum Beispiel Symptome? Sind das die Baby Boomer_innen im Chill-Modus, in der Luxusquarantäne? Kindereien statt sich mit dem Teufel an der Wand zu unterhalten, schließlich sitzt er schon auf der Couch!

Dann ging es los mit den Kinderfotos. Jede war einmal ein Kind gewesen, schließlich, jeder auch. Jede_r kann es beweisen. Auf Mamas Schoß, im Sandkasten, herzallerliebst, trotzig, schon damals so außerordentlich, so besonders, so außerordentlich besonders. Oder wenigstens süß. Jede_r kassiert dafür Herz erwärmende Herzlein. Oder ein blutjunges Geschöpf, in den Sixties, wow, manch würdiger Herr outet wallende Haarpracht, manch gestandene Frau eine lockere Tracht.

Schon krame auch ich in einer Lade, fische Verknittertes, Schwarz-Gelbliches heraus, schon lässt sich das kleine Mädchen auf dem Dreirad im FB-Kinderbilderbuch herzen. Zwischen den Kinder- und Jugendfotos Fotos von gerade am Coronavirus verstorbenen alten Künstlern. Ein Foto von einer Supermarktkassiererin in Frankreich. Manche kennen schon jemand, der am Virus verstorben ist.

Meer! Jeder soll sein Meer posten, so lautet jetzt der Challenge, sein Lieblingsmeer. Mehr und mehr Meere trudeln ein, die meisten haben eins.

Schön ist es in der Peer Group, die ein Schutzengelalgorithmus mir ja gnädig zuweist, sie bemüht sich sehr. Sicher viel mehr als viele draußen in der entsetzlich analogen Welt, die es zu unserm Erstaunen ja auch noch gibt. Kaum setzen wir einen zaghaften Fuß in diese Welt, zweifeln wir daran, ob die Menschheit jetzt wirklich eine andere, bessere wird, lauter Geläuterte. Eben waren wir doch noch ein Team!

Die sich großräumig aneinander vorbei Drückenden würdigen einander keines Blickes, doch, zunehmend aggressiver Blicke. Oder ist es die zunehmende Paranoia, die zu dieser Diagnose führt? Wer schaut wen am vernichtendsten an, wer hustet wem was? Die herankeuchenden Jogger_innen, keinesfalls Zielgruppe, oder umgekehrt, die nach Licht schnappenden Alten?

Übrigens, was machen Letztere eigentlich da, sollten die sich nicht schützen? Überall laufen die rum, ganze Rudel von denen wurden noch vor kurzem gesichtet, Spaß hätten sie gehabt, schreibt eine kultivierte Mittvierzigerin in einer eigentlich menschenfreundlichen Gruppe. Und wegen denen müssen unsere Kinder zuhause bleiben! Das finden mehr und mehr, klingt ja auch erschreckend plausibel. Wegen denen dürfen taufrische Menschen nicht in Discos knutschen, sich nicht einmal zaghaft im Blütenregen im Park einander nähern, schon taucht ein leibhaftiges Ordnungsorgan auf. Man muss diese so riskant lebenswandelnde Risikogruppe vor sich selber schützen! Wo sie ja auch so uneinsichtig sind. Die 65-jährige, die kribbelig hinter den Vorhängen hervorlugt, eben war noch Kreuzfahrt, Weltreise, Weinwander- und Jakobsweg? Eben war noch alles. Wieso sind die den Jogger_innen im Lebensweg?!

Vom bösen Blick können auch Elternteile berichten, die sich erdreisten, ihre kleinen Killer_innen zu lüften. Abrupt wird die Straßenseite gewechselt,werden Fluchtbewegungen angenommen. Und alle, alle sind im Visier der Balkonpolizei, wie es schon in Spanien heißt. Unserer extrem motivierten Mitmenschen, die von den Schießscharten ihrer Wohneinheiten extrem viele Leben retten, schließlich müssen sie die schwer überforderten Ordnungsorgane schwer unterstützen.

Seien wir weiter seltsam in den sozialen Medien, plötzlich erscheint mir der Begriff gerechtfertigt. Machen wir uns gegenseitig den Handstand vor, erzählen einander Witze, bewährtes allseits beliebtes Zen-Buddhistisches oder posten Hochzeitsfotos unserer Urgroßeltern. Von mir aus Meer, irgendein Himmel, Himmel ist immer gut.

Betreiben wir Eskapismus, wo wir nur können! Natürlich mit Händewaschen!

Michèle Thoma
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