Im fünften Buch von Über die Geschichte der Tiere erzählt Aristoteles, dass niedere Lebewesen sich nicht bloß durch Befruchtung, Sprossen und Knollen vermehrten. Sie entstünden auch durch „genesis automatos“ in unbelebter Materie, etwa Schlamm. Diese Ansicht scheint noch heute ihre Anhänger zu haben.
Das Gesundheitsministerium und das Luxembourg Institute of Science and Technology (List) verbreiten Woche für Woche: „[L]e cercle familial reste de loin le contexte de transmission des infections à la Covid-19 le plus fréquent.“ Aber wie kommen die Viren in den Familienkreis, in seine Küche und Stube? Die Wochenberichte lassen vermuten, durch „generatio ex putrefactione“, wie die Wissenschaftler im Mittelalter wussten: durch Spontanzeugung aus Fäulnis unter dem Sofa, im Spülbecken oder in der Biotonne.
Mit einer anderen Erklärung zitierte RTBF am 12. Januar den belgischen Biostatistiker Geert Molenberghs: „Les infections individuelles se produisent généralement au sein du milieu familial. Mais la première infection est souvent contractée sur le lieu de travail.“ Nach einem anstrengenden Tag bringen Mutti und Vati die Viren von der Arbeit mit.
Das Ministerium und das List beschränken sich auf die individuelle Ansteckung am Ende der kollektiven Infektionsketten. So bleibt der Familienkreis übrig und der Arbeitsplatz verschwindet aus den Wochenberichten. In der Wirtschaftstheorie entspricht dies der liberalen Grenznutzenschule: Sie konzentriert sich auf den Endverbraucher, um den Blick von der Produktionssphäre abwenden zu können.
Die gleiche Sichtweise prägt das Dutzend von Covid-Gesetzen, die DP, LSAP, Grüne und manchmal die CSV bisher verabschieden durften. Das Gesetz regelt die Bewegungsfreiheit auf der Straße, den Publikumsverkehr in öffentlichen Einrichtungen, den Kundenverkehr in Geschäften und sogar die Geselligkeit in Privatwohnungen. Der Begriff „lieu de travail“ kommt im Gesetz nicht vor (wie auch der liberale Minister Claude Meisch alleine über den Schulbetrieb entscheiden möchte). Das Kapitel „Mesures concernant les activités économiques“ bezieht sich lediglich auf eine „exploitation commerciale qui est accessible au public“.
Das Covid-Gesetz schränkt den Privatalltag ein und klammert die Arbeitswelt aus. Geregelt wird nur, wo beide sich durch Kundenkontakt berühren. Das Gesetz dient dem Schutz der Kundschaft in Geschäften und Gaststätten, nicht dem der Belegschaft in Fabriken und Büros: Dort genießen die Beschäftigten bestenfalls den allgemeinen Schutz von Masken, Sprays und Abstandhaltung. Bei 2 102 Kontrollen vergangenes Jahr notierte die Gewerbeaufsicht 365 Verstöße gegen selbst diese elementaren Auflagen. Alles scheint besser, als die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften für die Sicherheit am Arbeitsplatz zu mobilisieren.
Was hinter Werktoren und Bürotüren geschieht, gilt gemeinhin als Angelegenheit der Unternehmer. In Covid-Zeiten rechtfertigen Regierung und Gesetzgeber ihren Respekt vor dieser Privatsphäre mit der Ansicht, dass die Betriebe ein Geschäftsinteresse am Schutz ihrer Arbeitskräfte hätten. Die schiere Existenz des Arbeitsrechts widerlegt diese Behauptung. Außerdem beschwichtigen sie, dass die Covid-19-Viren in den Betrieben sowieso kaum vorkämen. Gleichzeitig raten sie den dort Beschäftigten, lieber zu Hause zu bleiben und Telearbeit zu verrichten.
Sich möglichst wenig in die Geschäfte der Unternehmen einzumischen, entspricht nicht nur einer tief verinnerlichten Überzeugung von Regierung und Gesetzgeber. Während der Seuche erkennen sie darin auch ihren eigenen Nutzen: Entstehen die Viren zumindest in den amtlichen Wochenberichten durch Spontanzeugung im Familienkreis, wird die Seuche von einem Problem der öffentlichen Gesundheit zu einem der von Liberalen so geschätzten individuellen Verantwortung.