ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Nur tiefes Misstrauen

d'Lëtzebuerger Land du 15.01.2021

Am 19. Dezember zogen zwei Dutzend Unbekannte in Tyvek-Anzügen, Crocs und Komödiantenmasken durch die Hauptstadt. Sie hatten ZetteI angeheftet, auf denen sie in Orwells Newspeak die Regierungsmaßnahmen gegen die Verbreitung der Covid-Seuche ironisierten: „Masken ab Gebuert“, „État de crise bei all Grippewell“, „Kee Sex, kee Kussen och am Mariage bis zur Impfung“, „Akafen just nach online“, „Vertraut der Politik, si wëllen dat Bescht fir Iech.“

Der Auftritt sah aus wie Straßentheater von Richtung 22. Bis der ehemalige RTL-Sprecher Bas Schagen ein Interview mit einem anonymen Teilnehmer auf Youtube verbreitete. Der Vermummte verlangte „Transparenz“ von der Regierung. „Ech als Bierger“ und „mat menge Suen“, beschwerte er sich über die „Proportionalitéit“ der Covid-Toten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung: „Fir 0,005 Prozent investéiere mer 1,5 Milliarden!“ Er wurde nicht gefragt, wieviel seiner Meinung nach ein Toter kosten soll.

Vergangenen Samstag versammelten sich über hundert Leute auf dem Wilhelmsplatz. Sie trugen weder Komödiantenmasken noch Mundschutz. Ein Mann mit Lederjacke und Sonnenbrille hatte stolz ein Schild um den Hals hängen: „Ech si Lëtzebuerger a wéi de roude Léiw sin ech kee Schof!! No mask, no test, no vaccine, no 5G, no new world order.“ Eine Frau mit zwei Kleinkindern forderte: „Do not mask your smile!“ Soziale Forderungen, etwa eines um seine Existenz bangenden Gastwirts, waren wenig zu hören.

Nur tiefes Misstrauen hatte griesgrämige Männer und besorgte Frauen vereint, wenige Jugendliche, wenige Alte. Manche gaben sich wütend, andere zeigten die Selbstzufriedenheit von Bescheidwissern. Sie hatten vielleicht ganze Nächte am Computer damit verbracht, bei Querdenkern und QAnon das weltumspannende Komplott von Regierung, Pharmaindustrie, Handybetreibern, Bill Gates und vielleicht auch von Juden und Rosenkreuzern zu durchschauen. „Le savoir est une arme. L’ignorance nous désarme“, hieß es auf dem plastikverschweißten Blatt einer kleinen, lächelnden Frau. Einer hielt eine Tafel hoch: „No more lies!“

Die meisten lehnten die Maskenpflicht und die Ausgangssperre ab. Andere waren Impfgegner. Der ADR-Abgeordnete Fernand Kartheiser hatte das am 23. November bei RTL zusammengefasst: Mit Ausgangssperre, Gaststättenschließungen, Maskenpflicht und dem Verbot von Familienfesten sei „de Stat zevill intrusiv“. Die ganze Covid-Politik sei „en ze wäiten Agrëff an d’Privatsphère“. Die ADR wolle auch „déi ganz Testen hannerfroen“.

Ein verbissener Sandwich man am „oppene Mikro“ trug „mRNA Covid-19 Impfung = Genmanipulation“ auf dem Rücken. Auf der Brust verkündete er seinen Traum von der großen Abrechnung: „Dee Moment, wou d’Police op der Séit vum Vollek steet, können d’Politiker hier Muecht net méi mëssbrauchen.“

Libertäre Staatsfeindlichkeit, die den Kampf ums Überleben zum Kampf um die individuelle Freiheit macht, vermischte sich mit ökologischen Weltuntergangs-
ängsten: „L’éveil des consciences n’est pas une option, elle est une nécessité indispensable pour sauver la planète et l’humanité“, stand auf einer Tafel. Wer sich im Leben zu kurz gekommen glaubte, durfte sich als Opfer einer gigantischen Verschwörung endlich ernst genommen fühlen. Die Unbeweisbarkeit dieser Komplotte beweist ihre Perfektion.

Premier Bettel und Gesundheitsministerin Lenert entscheiden über die Öffnungszeiten und Ausgangssperren zwischen verkaufsoffenem Sonntag,
Black Friday, Winterschlussverkauf und Autosalon. Aber sie lassen sich nicht in die Karten schauen. Sie versichern, alle öffentlichen und privaten Interessen gewissenhaft abzuwägen. Welches Gewicht sie den unterschiedlichen Interessen der Kranken, Restaurants, Großeltern, Ärztelobbys, Schulkinder und Kaufhäuser beimessen, bleibt ihr Geheimnis. So schüren sie die Komplottfantasien der Paranoiker, Kaffeesatzleser und Sternengucker auf dem Wilhelmsplatz.

Romain Hilgert
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