Leitartikel

Existenzielle Krise

d'Lëtzebuerger Land vom 10.03.2017

Nach einer Sitzung des Europäischen Rats am gestrigen Donnerstag treffen sich die 27 Staats- und Regierungschefs am heutigen Freitag in Brüssel zu einem informellen Gipfel, um über die Zukunft der Europäischen Union zu diskutieren. Unter dem Schock des Referendums zum EU-Austritt Großbritanniens Mitte vergangenen Jahres hatte sie sich nicht einigen können, wie das verhindert werden soll, was US-Präsident Dwight D. Eisenhower einst „the falling domino principle“ nannte. Deshalb entschieden sie, eine Entscheidung auf die 60-Jahrfeier der Römischen Gründungsverträge aufzuschieben. Nun naht der Jahrestag am 25. März, und es sieht nicht so aus, als ob die Staats- und Regierungschefs einen überzeugenden Plan aus dem Hut zaubern werden, wie es mit der Europäischen Union weitergehen soll.

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der sich gerne als idealistischer Europapolitiker der alten Schule darstellt, hatte große Spannung um sein Weißbuch aufgebaut, mit dem der „politische Kommissionspräsident“ den Weg aus der Krise aufzeigen oder zumindest sein Scherflein dazu beitragen wollte. Umso enttäuschender fiel für viele das Weißbuch aus, das er vergangene Woche dem Europaparlament vorstellte. Selbstverständlich erwartete niemand von dem viel kritisierten Kommis­sionspräsident, dass er in einem seiner legendären Ausfälle über das Diktat deutscher Exportweltmeister, ungarischer und polnischer Autokraten oder liberaler Austeritätsapostel zu schimpfen begann. Aber die fünf Auswege aus der „existenziellen Krise“ der Europäischen Union, die er scheinbar ohne Bewertung aufzählte, drücken nur die Ratlosigkeit einer Union aus, die so groß geworden ist, dass die von der Finanzkrise angeheizten Interessenkonflikte zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West inzwischen so groß scheinen wie die gemeinsamen Interessen.

Dass das Weißbuch kaum Anlass zu einer Diskussion bot, hat damit zu tun, dass weitgehende Einigkeit darüber herrscht, welche Option die wahrscheinlichste ist. Zwischen dem Weiterwursteln von Heeren rastlos umherreisender Politiker und Bürokraten, der Beschränkung auf die Freihandelszone Binnenmarkt, dem Abspecken auf einige Kernkompetenzen wie Handy-Markt und Polizeiüberwachung oder die Vergemeinschaftung nationaler Kompetenzen und Behörden läuft alles darauf hinaus, was einst als Europa der zwei Geschwindigkeiten verteufelt und schon 1994 von Doktor Schäuble als Verstärkung des Kerneuropas verlangt worden war. Für ein Kerneuropa, also für die Option, die seit den Schengen-Abkommen und der gemeinsamen Währung längst Wirklichkeit ist, sprachen sich Anfang der Woche in Versailles noch einmal Vertreter der vier größten verbleibenden EU-Staten aus und die Regierungen der drei Benelux-Staaten unterstützen sie.

In der Praxis sind die mächtigsten und reichsten Staaten der Europäischen Union damit bereit, vieles aufzugeben, um den Währungsraum als die „richtige“ Europäische Union vor allen künftigen Finanzkrisen, Trump und Brexit politisch und notfalls militärisch zu schützen. Um ihn herum dürfen die anderen Staaten kreisen, die eher an einer Freihandelszone, dem Handymarkt oder der Polizeiüberwachung interessiert sind. Die Voraussetzungen sind bereits geschaffen, da die Frankfurter Zentralbank so eingerichtet ist, dass sie sich in den Jahren nach der Finanzkrise als einzige voll handlungsfähige europäische Institution erwiesen hat. Seit 2014 genießt ihre Politik ohne falsche Scham vor dem oft beklagten Demokratiedefizit auch hierzulande beinahe Verfassungsrang. Es sei denn, es käme bei dem nächste Woche beginnenden Wahlzyklus in Europa zum Sieg rechtsradikaler EU-Gegner und damit zur sechsten von Jean-Claude Junckers fünf Optionen, dem „falling domino principle“.

Romain Hilgert
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