Londons Brexit-Plan ist kein Rückzugsrezept

Goodbye and farewell

d'Lëtzebuerger Land vom 10.02.2017

Mit 494 Stimmen dafür und 122 dagegen nahm das Unterhaus des britischen Parlaments am Mittwochabend den European Union (Notification of Withdrawal) Act 2017 an, der es Premierministerin Theresa May erlauben soll, Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union und damit den Austritt Großbritanniens aus der EU auszulösen. Dass es keine größere Rebellion gab, lag auch daran, dass die Regierung sich dazu hatte breitschlagen lassen, vor der Abstimmung das Weißbuch The United Kingdom’s exit from and new relationship with the European Union zu veröffentlichen. In zwölf Punkten, so das Versprechen, soll darin die Verhandlungsstrategie von Her majesty’s government mit der EU dargelegt werden.

Ob es am berühmten britischen Humor liegt, dass die Abgeordneten der Premierministerin trotz Weißbuch-Inhalt die Erlaubnis geben, den Abzug zu drücken? Denn auf 77 Seiten fallen der Regierung kaum gute Argumente für den EU-Austritt ein. Die Faktenlage macht daraus eher ein Plädoyer für die EU als ein Rezept für den Rückzug. Kein Deal sei besser als ein schlechter Deal, hatte Theresa May im Januar gesagt. Eine Taktik, die mit allerhand Risiken verbunden ist. Zum Beispiel wirtschaftliche Isolation und diplomatischer Gewichtsverlust, eine Position außerhalb jeglicher Handelsabkommen, unfreiwillige Diät, die Spaltung des Königreichs, weitere Zuwanderung. Und: innenpolitischer Stillstand.

Fünf Brexit-Reden hat es seit dem Referendum im Parlament gegeben, 500 parlamentarische Anfragen wurden beantwortet, ein Department for exiting the EU gegründet, das schon zwölfmal vor parlamentarischen Sondergremien angetreten ist, die sich derzeit mit 36 verschiedenen Brexit-Untersuchungen beschäftigen, alles bevor die Verhandlungen gestartet haben. Wenn sie beginnen, werden die administrativen Ressourcen auf Jahre darauf konzentriert sein, für Großbritannien ein EU-Mitgliedschafts­imitat zu verhandeln, das doch nie so vorteilhaft sein wird wie das Original. Eine Erkenntnis, für die kein flammender EU-Optimismus notwendig ist, sondern nur die Lektüre des britischen Weißbuchs. Nach der Ankündigung des „harten“ Brexit und des „No-deal-deal-better-than-a-bad-deal“ hatten Beobachter ein wenig gerätselt, was das konkret heißen werde. Rückkehr zum Handel von Waren und dem Austausch von Dienstleistungen unter den Bedingungen der Welthandelsorganisation? Doch bevor Großbritannien bilaterale Handelsabkommen abschließen kann, muss es erst ein Statut als selbstständiges WHO-Mitglied verhandeln. „Our aim is to establish schedules in a way that replicates as far as possible our current position as an EU Member State“, heißt es dazu im Weißbuch.

Great Repeal Act soll das Gesetz heißen, mit dem Großbritannien die EU verlassen will. Dabei ist er genau das Gegenteil, denn damit sich im Inneren die Gesetzeslage nicht von einem Tag auf den anderen ändert und Chaos ausbricht, will die Regierung den gesamten Acquis an EU-Gesetzen und Regulierung in einem Ruck in nationales Recht umsetzen. Im Nebeneffekt soll das die Chancen auf ein gutes Handelsabkommen mit der EU insgesamt verbessern, wenn die Rechtslage soweit noch übereinstimmt. Stückchenweise könnten danach die EU-Regeln widerrufen werden, die den Briten nicht gefallen. Sie wollen auf jeden Fall „die Macht über die eigenen Gesetze“ von Brüssel zurück ins Parlament und vom Europäi­schen Gerichtshof zurück in die nationalen Gerichte bringen. Dabei erkennen auch die Autoren an, dass die harmonisierte Rechtsauslegung des EuGH funktioniert („clear process“) und ein neues Schlichtungsmodell für Streitigkeiten zwischen UK und EU gebraucht wird, wenn sie, wie gehofft, ein neues, maßgeschneidertes Handelsabkommen abschließen. Das neue Arrangement außerhalb des Binnenmarktes „may take in elements of current Single Market arrangements in certain areas as it makes no sense to start again from scratch when the UK and the remaining Member States have adhered to the same rules for so many years. Such an arrangement would be on a fully reciprocal basis and in our mutual interest”.

Dass der Handel Punkt acht von zwölf ist, spricht Bände über die Prioritäten: Immigrationskontrollen vor Wirtschaftsinteressen. Das könnte aus zweierlei Ursachen zum Problem werden. Denn die EU ist nicht nur Großbritanniens größter Exportmarkt. Großbritannien ist vor allem Nettoimporteur von Waren und Gütern aus und damit ziemlich abhängig von der EU. Nicht zuletzt die importierten Esswaren stammen zu 70 Prozent aus der EU. Ohne solides Abkommen drohen magere Zeiten. Den britischen Landwirten hat die Regierung versprochen, ihre Beihilfen bis 2020 weiterzuzahlen. Woher das Geld kommt, wird im Weißbuch nicht erklärt. Wie es danach weitergeht, auch nicht. Aber bei vergangenen Reformen der Gemeinsamen Agrarpolitik hat sich Großbritannien für Kürzungen bei den Beihilfen eingesetzt.

Die schottische, wie auch die walisische Regierung haben der Zentralregierung in London ihre Positionen schriftlich eingereicht, Punkt eins in der Prioritätenliste ist jeweils der Verbleib im EU-Binnenmarkt, gegebenenfalls auch ohne London. Nordirland hat nichts Schriftliches eingereicht, ist aber ein besonders problematischer Fall, da Großbritannien dort eine Landgrenze zu Irland hat und dort vor den gleichen Problemen steht wie kontinentaleuropäische Länder: Grenzpendler, direkter Handel, integrierte Stromnetze. Um das zu regeln, gibt es eine Art Mini-Schengen, das Großbritan­nien gerne erhalten möchte, damit der innerirische Grenzverkehr nicht zusammenbricht.

May verspricht Großbritannien nach dem EU-Austritt zur „wirklich globalen Handelsnation“ zu machen, und um die Aussicht auf Erfolg dafür zu belegen, führt die Regierung allerhand Statistiken über die Entwicklung des britischen Außenhandels ins Feld. Sie zeigen erstens, dass sich der Handel im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt wirklich schnell seit dem EU-Beitritt Anfang der 70-er entwickelt hat und zweitens, dass das Nicht-EU-Land, mit dem sich die Handelsbeziehungen in den vergangenen zehn Jahren am schnellsten entwickelt haben, der Zwergstaat Liechtenstein ist.

Dennoch will die Regierung den EU-Binnenmarkt unbedingt verlassen, um dem freien Personenverkehr ein Ende zu bereiten. Im „letzten Jahrzehnt oder so“ habe es „Rekordzuwanderung“ gegeben, heißt es im Weißbuch. Also seit der von Großbritannien nach dem Motto „erweitern, nicht vertiefen“ stark befürworteten EU-Osterweiterung 2004, anlässlich derer London ganz bewusst anders als andere EU-Länder auf Übergangsbestimmungen beim freien Personenverkehr verzichtete. 900 000 Polen drohten nun, die Sozialversicherungssysteme zu überlasten, deshalb hatte der verabscheute EuGH London noch schnell vor dem Referendum das Recht zugesprochen, sie beim Kindergeld zu diskriminieren. Vor allem aber zeigen die Statistiken, dass seit 1973 der Anteil an Zuwanderern aus Nicht-EU-Staaten immer höher war als der von Europäern und die hohen Zuwanderungsraten eher auf die Vergangenheit als Kolonialmacht zurückzuführen sind als auf die EU-Mitgliedschaft. Am Status der EU-Bürger in Großbritannien möchte London nichts ändern. Und auch nicht an dem der über einer halben Million Briten, die sich in Spanien und Südfrankreich dauerhaft sonnen. Wie das gehen soll, weiß man noch nicht.

Von der angedrohten Senkung der Unternehmenssteuern ist im Weißbuch keine Rede, das Wort Steuern kommt kaum vor. Warum auch, wenn London die Einnahmen braucht, um landwirtschaftliche Zulagen und Forschungs- und Strukturgelder aus Brüssel zu kompensieren, ohne dabei die Verschuldung zu steigern? Ob die Rechnung zwischen den wegfallenden Zahlungen nach Brüssel und dem, was London künftig selber stemmen muss, aufgeht, steht im Weißbuch nicht.

Um die Wählerschaft bei der Stange zu halten, verspricht ihr die Regierung post-Brexit einen faireren Arbeitsmarkt, führt als Beispiel die rezente Einführung eines national living wage an, und dass britische Mütter mehr Elternurlaub bekommen als manche europäische. Dieses Versprechen dürfte in Brüssel, wo Großbritannien in der Vergangenheit immer für eine Arbeitsmarktflexibilisierung gekämpft hat, für einige Lacher sorgen. Dass die EU keinem Mitgliedstaat im Wege steht, der die Arbeitnehmerrechte über die europäischen Mindeststandards hinaus zu schützen will, ergibt sich aus den eigenen Beispielen.

Als möglichen Trumpf in den Verhandlungen könnten die Briten die Sicherheit ins Feld führen. Sie wollen auch in Zukunft ihre Sicherheitskräfte und ihre Geheimdienste im Kampf gegen Terroristen und organisierte Kriminalität mit den europäischen Kollegen zusammenarbeiten lassen. Wobei Europa heute auch unsicherer ist als vor fünfzehn Jahren, weil Großbritannien die USA damals „bedingungslos“ bei der Suche nach Saddam Husseins fiktiven Massenvernichtungswaffen unterstütze. Ob die Sicherheit also eine wirkliche Trumpfkarte ist, bleibt abzuwarten. „Along with France, we are the only EU Member State with an independent nuclear deterrent and a permanent seat on the UN Security Council.“ Was die Franzosen dazu veranlassen könnte, den Briten deshalb in Vorfreude auf die sich anbahnende neue Machtstellung innerhalb der EU vom entgegengesetzten Kanalufer ein „Adieu“ zu zuwinken .

Passkontrolle

Im Europaparlament analysieren derzeit die Kommissionen die Brexit-Folgen auf ihren jeweiligen Bereich. Der Berichtsentwurf der Wirtschafts- und Finanzkommissionder dem Land vorliegtbeschäftigt sich vor allem mit der Finanzmarktregulierung und den Steuern. Darin warnt das Kommissionssekretariat auch vor negativen Folgen für Kontinentaleuropa: „The exclusion from the internal market of the Member State hosting the main EU financial centre could have consenquences in terms of jobs and growth both for the EU27 and the UK.“ Doch fettgedruckt unterstreichen die Autoren: „It is generally accepted that the only route to a passport regime for a non-EU State would be an EEA-like or Norway-like agreementor a bespoke agreement with the same purpose and effect. Such agreements include counterpartssuch as accepting the 4 fundamental freedomsthe binding nature of the Court of Justice’s rulings and a contribution to the EU budget.“ Je nach Bereich sehen die EU-Regeln Provisionen für Drittstaaten ohne Binnenmarkt-Pass vorim Rahmen derer eine Äquivalenz möglich istmit der Nicht-EU-Firmen wenn auch verminderten Zugang zum EU-Markt bekommen können. Diese zu gestattenliegt im alleinigen Ermessen der EUkönnte für Großbritannien aber zu „default option“ werden.

In manchen Dossiers erwarten sich die Autoren besser Chancen auf Erfolgwenn die Briten nicht mehr mitreden. Zum Beispiel bei der Umsetzung der geplanten Gemeinsamen harmonisierten Körperschaftssteuerbemessungsgrundlage (Aka CCTB und CCCTB)auch wenn die Briten nicht als einzige dagegen sind. Ohne Briten könnten die EU-Regeln zur Vermeidung von „Hybrid“-Steuerkonstruktion über Drittstaaten über die OECD-Standards hinaus verschärft werdenund die Chancen auf einen Mechanismus zur Lösung von Doppelbesteuerungskonflikten stiegen an. Auch bei der europäischen Steuerpardiesliste könnte es ohne die Briten voran gehen. Sie haben bisher verhindertdass die Nicht-Besteuerung oder Quasi-Nicht-Besteuerung als Kriterium zur Bestimmung von Steuerparadiesen gilt. Dabei müsste Großbritannien weiterhin seine internationalen Pflichten als G-20 und OECD-Mitglied erfüllensoll heißenungehemmtes Steuerdumping vor der Haustür der EU ist nur begrenzt möglich.

Im Rahmen der Reform der Anti-Geldwäschebestimmungen haben sich die Briten bisher dagegen gewehrtdass die Nutznießer von Treuhandgesellschaften nachvollziehbar sein müssen. „Whatever the final deal on the revisions to AMLD IVaccess tot he single market for financial services for UK companies would be linked tot he implementation of EU anti-money laundering rules.“

Michèle Sinner
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