Hoppla! Vielleicht hatte sich Finanzminister Pierre Gramegna (DP) im Eifer des Gefechts der Vorstellung der neuesten OECD-Analyse ein wenig vergaloppiert, aber dann war die große Steuerreform für 2020 angekündigt. Da konnte er nur noch ein wenig nuancieren, als er gefragt wurde, ob die Jahrhundertreform, von der sich nicht nur die Individualisierung, die Abschaffung mancher Steuerklassen, sondern auch die Reform der Grundsteuer versprochen wird, wirklich schon nächstes Jahr komme. „2020, das ist das Jahr, das nun kommt, das wird das Jahr, in dem wir Nägel mit Köpfen machen wollen. In welchen Fristen das dann gestimmt und umgesetzt wird, das steht noch im Raum, aber es ist klar, dass 2020 ein entscheidendes Jahr wird, um alles vorzubereiten“, so der Finanzminister am Dienstag nach der Präsentation der OECD Economic Surveys – Luxembourg.
Der Hauptakzent liegt diesmal auf der Entwicklung der Produktivität und der Lage auf dem Wohnungsmarkt. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass die gesamtwirtschaftliche Lage Luxemburgs zu gut ist, um daran etwas auszusetzen. Die Wirtschaft wächst weiter, die Haushaltsziele werden mehr als erreicht, die öffentlichen Schulden sind niedrig. Sogar der Ruf der OECD, entweder das Renteneintrittsalter anzuheben oder die Renten zu kürzen, klingt mittlerweile ein wenig halbherzig.
Es mag aber auch daran liegen, dass die Regierung bei der Auswahl der Themenschwerpunkte mitredet und die Akzente der OECD in Wahrheit auch die ihren sind. Das stellt den Besuch von OECD-Generalsekretär Angel Gurría und seiner Mitarbeiter in ein etwas anderes Licht. Denn ist die Regierung das Managementkomitee des Unternehmens Luxemburg, wie die Arbeitgebervertreter das vor Wahlen gerne fordern, hat sie sich mit Gurría den Firmenberater ins Haus geholt. Der legt in seinem Bericht zwar nichts offen, was nicht ohnehin jeder weiß, aber durch sein Auftauchen bereitet er die Mitarbeiter auf Kürzungen im Betrieb vor. Dass die OECD eine internationale Organisation ist, gibt ihr im Vergleich zu Firmenberatern aus der Privatwirtschaft einen Anstrich zwischenstaatlicher Seriosität, was die Bürger weniger erschreckt, als wenn man den Auftrag, die Steuerreform zu verfassen, direkt an McKinsey vergeben würde.
Das offenbart sich zwischen den Zeilen der OECD Survey. Denn wer in Luxemburg „Produktivität“ hört, denkt, nach Jahrzehnten militanter Lobbyarbeit der Unternehmerverbände, reflexartig an die Löhne, die ihrer Meinung schneller gestiegen sind als die Produktivität und daher die Wettbewerbsfähigkeit schmälern. Da kann es schon erstaunen, dass die OECD in ihrem neuen Bericht kein einziges Wort über die Gehälterindexierung verliert – das sieht ihr nicht ähnlich –, sondern die Schuld dafür, dass die Produktivität in der Luxemburger Wirtschaft auf hohem Niveau stagniert, den Unternehmern, der Regierung und der Statistik gibt. Da ist von großen Unterschieden innerhalb ein und derselben Branche die Rede; im Bauwesen beispielsweise gelingen manche Firmenchefs Produktivitätssteigerungen, während bei anderen Betrieben mit dem gleichen Tarifvertrag die Produktivität sinkt. Auf die fehlenden Investitionen wird hingewiesen, sei es in neue Technologien, Ausstattung oder in die Weiterbildung der Mitarbeiter. Die OECD berichtet von „Zombie-Firmen“, die den Anschluss an die Besten ihrer Branche verloren haben und untot ihr Dasein fristen. Die dringend die seit Jahren vor sich hin dümpelnde Reform des Insolvenzrechts bräuchten, um abgewickelt werden zu können. Von Firmen, denen die Steuervergünstigungen auf den Einnahmen aus Geistigem Eigentum nichts bringen würden, so lange sie die Forschung in die Entwicklung solchen Eigentums nicht von der Steuer absetzen können und deswegen gar nicht erst forschten. Und schließlich muss auch die OECD in einem Kasten festzustellen, dass das Resultat der Rechnung BIP : Arbeitsstunden = Arbeitsproduktivität möglicherweise weniger günstig und aussagekräftig ausfällt, weil das BIP vergangenes Jahr rückwirkend drastisch nach unten korrigiert wurde, als dem Statec auffiel, dass Amazon und Co plötzlich keine Gewinne mehr nach Luxemburg verschoben.
Doch seit ein paar Jahren schon, seit sie mit ihren Forderungen nach der Abschaffung oder Modulation des Index auf Granit beißen und sie dem Argument, dass die Löhne in Luxemburg zwar hoch, aber die Lebens- und vor allem die Wohnkosten höher sind, nichts entgegenzusetzen haben, beginnt sich in Arbeitgeberkreisen eine neue Einsicht durchzusetzen: dass wenn der hohe Mindestlohn zum Leben nicht ausreicht, die Lebenskosten gesenkt werden müssen, bevor man wieder nach Lohnkürzungen fragen kann. So fordert die Handwerkerkammer, deren Mitglieder natürlich am Bau von Wohnungen mitverdienen, nicht erst seit der vergangenen Wahlkampagne, die Behebung der Wohnungsnot zur absoluten Priorität zu machen. Denn sind die Wohnungen weniger teuer, müssen sie ihren Mitarbeitern weniger Lohn zahlen, und dann geht es auch mit der Wettbewerbsfähigkeit wieder nach oben.
So betrachtet, ist es kaum noch ein Fehler, wenn in der Druckversion der Survey das Kapital Wohnungsmarkt unter dem Übertitel „Policies for stronger productivity growth“ geführt wird, während es in der elektronischen Fassung deutlich holistischer „Policies for a more efficient and inclusive housing market“ heißt. „Tout le monde veut habiter à Luxembourg“, fasste Angel Gurría am Dienstag zusammen, wie Luxemburg Opfer seines eigenen Wirtschaftserfolgs geworden ist. In ihrem Bericht schildert die OECD die Dramatik auf dem Wohnungsmarkt gestrafft und in seltener Deutlichkeit.
Zwischen 2000 und 2017 verzeichnete Luxemburg einen Bevölkerungszuwachs von 36 Prozent, während es im EU-Schnitt knapp über fünf Prozent waren. Mit dieser rasanten Entwicklung hat das Wohnungsangebot nicht Schritt gehalten. Pro tausend Einwohner zählte Luxemburg 2015 414 Unterkünfte und platzierte sich im OECD-Schlusspeloton, während Griechenland, Portugal, Frankreich und Spanien (den Euro-Krisen-Ländern, aus denen junge qualifizierte Leute auswanderten) weit über 500 Unterkünfte pro tausend Einwohner zählen. Das Problem verschlimmern aber längst nicht nur die Einwanderer, sondern auch Geschiedene und Singles; die Größe der Haushalte schrumpft und dadurch steigt wiederum die Nachfrage. Hinzu kommt, dass die Zersiedlung enorm ist, nicht dicht genug gebaut wird, weil das ideale Leben nach Vorstellung der Gebietsansässigen in einem Einfamilienhaus mit eigenem Garten stattfindet. Fast 6 500 zusätzliche Wohnungen jährlich würden gebraucht, während zwischen 2001 und 2016 nur 2 804 pro Jahr entstanden. Weil das Angebot knapp ist, steigen die Preise, und zwar schneller als die Einkommen. Der Verschuldungsgrad der Haushalte ist hoch in Luxemburg. Der Schuldendienst auf den Hypotheken ist mit Abstand höher als sonst wo in der gesamten OECD, nahezu 30 Prozent des Haushaltseinkommens verschlingen die monatlichen Rückzahlungen oder die Miete.
Das Land ist klein und die Fläche begrenzt. Das ist keine neue Erkenntnis. Aber zwischen 2010 und 2017 sind die Preise für Bauland um 50 Prozent gestiegen. Und das ist der Punkt, an dem es laut Vorstellung der Berater von der OECD nun zwei Gruppen im Unternehmen Luxemburg an den Kragen gehen soll, die bisher von allzu drastischen Maßnahmen verschont wurden: den Wohnungseigentümern und den Grundstücksbesitzern, mit großer Wahrscheinlichkeit luxemburgisch und wahlberechtigt. Daher hat sich bisher noch jede Regierung geniert, ihnen ihre Privilegien zu kürzen. Den bëllegen Akt abzuschaffen oder die steuerliche Absetzbarkeit der Hypothekenzinsen sowie die Zinsbonifikationen wurde zwar schon öfter diskutiert. Aber wer wollte das bisher schon im Parlament durchsetzen, bevor die eigenen Kinder und Enkelkinder, beziehungsweise die der Wählerschaft ihre erste Wohnung gekauft haben und der eigene Kredit abgestottert ist? Und wer wollte schon ernsthaft die Baulandspekulation unterbinden, wenn doch irgendwo eine Erbtante noch eine Wiese besaß, die dank der Zersiedlung in absehbarer Zeit in den Bauperimeter gelangen konnte?
Daher hat man die Grundstücksbesitzer – 92 Prozent allen Landes ist in Privatbesitz – bisher eher Zuckerbrot statt Peitsche gegeben. Etwa die Besteuerung zum Supersonderangebot, der berühmte Viertelsatz auf dem Verkaufsmehrwert, damit sie ihre Parzellen verkaufen und die Bebauung ermöglichen. Trotzdem hat sich die Lage zugespitzt. „Die Kosten für die Landhortung sind quasi Null. Sehen Sie sich die Grafik an, das ist so wenig, das können Sie gar nicht sehen“, wedelte Gurría am Dienstag auffordernd mit seinen Balkendiagrammen herum. Weil es nichts kostet, Bauland brachliegen zu lassen und dabei zuzusehen, wie der Wert steigt, werden die Eigentümer der von Wohnungsbauministerin Sam Tanson (Déi Gréng) eingerichteten Spezialzelle kaum die Tür einlaufen, um ein Stück Terrain abzutreten, auf dem staatliche Sozialwohnungen zur Miete gebaut werden könnten. Über 2 800 Hektar sind innerhalb der Perimeter unbebaut. Damit ihre Eigentümer sie hergeben, empfiehlt die OECD, nicht nur eine drastische Reform der Grundsteuer, die außerdem helfen könnte, die Steuerausfälle auszugleichen, wenn die multinationalen Konzerne Luxemburg verlassen. Sondern darüber hinaus Bußgelder einzuführen, wenn ausgestellte Baugenehmigungen nicht genutzt werden. Und, um die Gemeinden auf Kurs zu bringen, die Gemeindefinanzierung davon abhängig zu machen, ob sie diese Maßnahme durchsetzen.
Am Dienstag sagte Finanzminister Pierre Gramegna, die Empfehlungen der OECD sollen in die große Steuerreform miteinfließen und auf Nachfrage bekräftigten er wie auch Sam Tanson explizit, man schließe keine dieser Empfehlungen aus. So zeichnet sich ab, dass die Dreier-Koalition der Forderung der Arbeitgeber nach Lohnmoderation nachkommen will, indem sie Sozialwohnungen für die Arbeitnehmer baut – auch wenn sie sich im Gegenzug mit den Grundstücks- und Wohnungseigentümern anlegt. Der Zeitpunkt scheint günstig. Denn im OECD-Bericht sieht es so aus, als ob der Scheitelpunkt in Reichweite ist, an dem weniger Wahlberechtigte Bauland besitzen, als Wahlberechtigte eine Immobilie suchen. Denn auch der gesellschaftlichen Mittelschicht falle es inzwischen immer schwerer, bezahlbaren Wohnraum zu finden.