Wer schreibt, wer empfängt heute noch solche Briefe? Auch ganz ohne Kulturpessimismus über den vermeintlichen Verlust des Schreibens in Zeiten von E-Mail und SMS: ein Liebesbrief, mal ungeduldig, mal voller Sehnsucht, mal erotisch, einmal jugendlich naiv, das hat doch was. Der Briefwechsel zwischen dem russischen Schriftsteller Anton Tschechow und seiner Geliebten und späteren Ehefrau Olga Knipper gehört zu den ergreifendsten der Weltliteratur. Als er sie 1898 bei einer Probenlesung seiner Möwe kennen lernt, ist sie 30, er 38 und bereits an Tuberkulose erkrankt. Wegen seiner Krankheit muss der gelernte Arzt ans Meer, nach Jalta ziehen, sie jedoch bleibt in Moskau, wo sie am Künstlertheater die weiblichen Hauptrollen in seinen Stücken spielt, in Onkel Wanja, der Möwe, den Drei Schwestern und dem Kirschgarten. Auch nach ihrer Heirat im Mai 1901 können und wollen beide nichts an dieser Distanz ändern – was aus ihnen eine hochmoderne Beziehung macht –, die Literatur verdankt diesem Tatbestand wunderschöne Briefe von größter Intensität. Anton Tschechow starb 1904 in Badenweiler, ein Jahr vor Beginn der Revolution und der neuen Zeit in Russland. Tschechow beschrieb sich, seine Literatur und seine Epoche stets als Auslaufmodell, war überzeugt, auch als Schriftsteller unaktuell zu sein. Dabei sind es gerade die Sehnsucht, die Melancholie und das Wissen um diese Vergänglichkeit, die seine Stücke beherrschen, die ihn auch 100 Jahre später noch zu einem der meistgespielten Autoren der Welt machen. „Anton, Du bist als Schriftsteller so nötig, so schrecklich nötig, damit die Menschen zur Ruhe kommen, damit sie verstehen, dass es Poesie in der Welt gibt, dass es liebende menschliche Seelen gibt, dass das Leben groß und schön ist. Jeder einzelne Satz von dir ist nötig und wird in Zukunft noch nötiger sein“, schreibt Olga Knipper ihm in einem ihrer intensivsten Briefe, um ihn zu überzeugen, er möge doch den Kirschgarten so schnell wie möglich fertig schreiben. Die Liebesbriefe der beiden sind in Buchform (Mein ferner lieber Mensch, Fischer Verlag) erschienen, Andrea Clemen hat sie als Theaterdialog unter dem Titel Mein Herz – Mein Hund zusammengestellt. Das Kasemattentheater – das vor zwei Jahren Tschechows Einakter Der Bär und Über die Schädlichkeit des Tabaks produzierte – bringt derzeit eine Bühnenversion der Texte nach Luxemburg: Katarina Gaub inszeniert Mein Herz – Mein Hund sehr intimistisch und bietet dabei etwas für Auge, Herz und Kopf. „Ich bin die Möwe! Ich bin die Möwe“, juchzt Wicki Kalaitzi gleich zu Anfang des Stückes und wirft begeistert die Arme in die Luft. „Nein, nein, nein, eine Schauspielerin...“, nimmt sie sich gleich selbst zurück. Sie spielt Olga Knipper als Diva, die gerne im Mittelpunkt steht, die Bühne nicht missen mag, dann jedoch auch wieder von Selbstzweifel und Sehnsucht gepackt, kaum ausharren kann, bis sie ihren Schriftsteller wiedersehen kann. Germain Wagner sucht Nuancen und Zwischentöne, um den kranken Tschechow zu spielen, der Blut spuckt und Opium nimmt, um weniger Schmerzen zu haben, dann jedoch vor Sehnsucht nach seinem „Pferdchen“ oder seiner „Küchenschabe“, wie er Olga zärtlich nennt, fasst vergeht. Der Angst hat, eine Ehe könne ihn einengen, sie dann jedoch drängt, ihm ein Kind zu schenken oder so schnell wie möglich nach Jalta zu kommen. Seitenweise zweifelt er an seinem Talent, bohrt und bohrt, um zu erfahren, wie seine Stücke in Moskau ankommen, verliert sich in detaillierten Beschreibungen des Wetters, doch notiert nur ganz beiläufig: „Ich war bei Tolstoi.“ Ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten stellen die beiden Schauspieler wunderbar in der Tanzszene dar: er ist ungestüm und unbeholfen, sie extrovertiert und exzessiv Mein Herz – Mein Hund ist eine packende Liebesgeschichte mit Mehrfachkodierung. Katarina Gaub hat sehr wenige, deshalb aber hochsymbolische Passagen zurückbehalten (das Stück dauert weniger als eine Stunde), und doch versteht man alles, kann man die private Geschichte der beiden und die Literatur-, ja, vielleicht sogar ein bisschen Gesellschaftsgeschichte daran nachvollziehen. Der Bildungsbürger wird darin Verweise auf Tschechows Stücke finden – ach, die Kirschen, die Kirschbokale, die Kirschenrezepte – der Gala-Leser und RTL-Zuschauer einfach nur die tragische Liebesgeschichte genießen. Einer der großen Erfolge des Stückes ist, dass die Zeitverschiebungen, die zwischen den Briefen bestehen – einige Tage von Moskau nach Jalta, einige Tage für den Rückweg brauchte die Post schon – komplett verwischt werden und der Austausch der beiden zum Dialog wird. Als zweiter Glücksgriff der Kasemattentheaterproduktion erweist sich das ebenso schlichte wie elegante Bühnenbild von Katharina Polheim in anthrazitgrau, mit nur einem weißen Wandfries, einigen Schnapsgläsern, einer Diskokugel und einem dürren Strauch, die zur unhysterischen, zeitlosen Ästhetik passt. „Du fragst: was ist das Leben?“, fragt Tschechow Olga Knipper. „Das ist, als wollte man fragen: was ist eine Mohrrübe? Eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe, mehr ist darüber nicht zu sagen.“
Mein Herz – Mein Hund – Ein Stück nach Briefen von Olga Knipper und Anton Tschechow, Regie : Katarina Gaub ; mit Wicki Kalaitzi und Germain Wagner wird noch am Samstag dem 27. Oktober und am 6. 7. 8. 9. 13. Und 14. November, jeweils um 20 Uhr im Kasemattentheater, 14, rue du Puits in Bonneweg gespielt. Reservierungen und Informationen : Telefon 291281; www.kasemattentheater.lu.