Am Wochenende wird in Altrier eine Naturata-Filiale schließen. Der Grund sei ein rein ökonomischer: „Der Umsatz in dieser ländlich gelegenen Filiale war gering“, erklärt Jutta Serwas vom Oikopolis-Vorstand, der Gruppe, die die Naturata-Kette führt. Der Laden lag an der Echternacherstaße, aber er war nicht wirklich sichtbar und zwei Kilometer entfernt befindet sich ein Rewe – sprich die Konkurrenz. Zwar hat die Filiale ihren Charme, weil sie an eine von Proactif geführte Gärtnerei angegliedert war, hat durch ihre zwei Stockwerke jedoch ihre logistische Tücke. Es ist die zweite Laden-Schließung seit Jahresbeginn: Neun Monate nach ihrer Eröffnung wurde Mitte Januar eine Naturata-Filiale in Steinsel geschlossen. Es war der erste gewichtige Einschnitt der Bio-Kette seit 1989. „De Puffer geet net onendlech, iergendwann muss een un de Speck“, argumentierte im Januar Oikopolis-Gründer Änder Schanck. Als sich in Steinsel die Türen zum ersten Mal öffneten, lag der Angriff Russlands auf die Ukraine fast zwei Monate zurück. Der Export von Bio-Waren aus der Ukraine stockte, insbesondere Ölsaaten und Getreide. Und die Kauflust der Kunden, die ihren Einkaufswagen an den Regalen vorbeischoben, war durch die sich verschärfende Inflation in ganze Europa ausgebremst.
„Weitere Schließungen sind keine vorgesehen“, meint Jutta Serwas. Zwar dreht die Filiale auf Howald nicht mehr, seit die Trambaustelle brummt, aber die Naturata-Leitung erwartet sich einen Aufschwung, sobald die Tram vor der Ladentür hält und die Autobahnausfahrt wieder betriebsfähig ist. Keine Sorgen macht man sich um den Laden in Erpeldingen/Sauer, der vor Ort von „den Einwohnern eines Neubaugebiets gerne zu Fuß besucht wird“, sowie die Filiale in Rollingergrund, die als älteste eine treue Stammkundschaft bedient und „ein großes Einzugsgebiet“ aufweist. Nun bleiben noch zehn Filialen übrig. Zu Beginn der Pandemie 2020 fuhr Naturata einen Rekordgewinn von 442 790 Euro ein. Durch die geschlossenen Restaurants und die ausfallenden Ausgaben, schauten die Kunden beim Lebensmittelpreis nicht so genau hin. Doch schon im Folgejahr wurde der Aufschwung von Naturata und dem Bio-Handel gebremst. Hinzu kommt, dass seit Oktober 2021 die Lebensmittelpreise ununterbrochen steigen. Der negative Trend schlägt zu Buche: 2021 verzeichnete die Bio-Kette einen Verlust von 1,3 Millionen Euro; letztes Jahr schnellte er bedingt durch die Investitionen in Steinsel bis zu fast 4 Millionen hoch.
Naturata versteht sich als Fachhandel, das qualitativ hochwertige Bio-Waren anbietet, die möglichst aus der Region stammen. Um dem Kundenverlust entgegenzuwirken, versucht die Kette nun am unteren Preisspektrum die Produktpalette auszuweiten. (Man verweist darauf, dass die Supermärkte derzeit ähnlich vorgehen und verstärkt Discountprodukte im Sortiment führen). Darüber hinaus will die Naturata-Leitung ihre Marketingstrategie überdenken: „In unseren Werbekampagnen wollen wir die Landwirte verstärkt in den Vordergrund stellen und auf die Herkunft der Produkte hinweisen.“ So könnten Kunden davon überzeugt werden, wieder im Fachhandel einzukaufen, vermutet Jutta Serwas. Dabei liest der Konsument jetzt bereits auf Smoothie-Flaschen Sprüche wie „Gutes trinken, Gutes tun“ und sieht Fotos von Herstellern auf Etiketten von Brotaufstrichen und abgepackten Kartoffeln abgedruckt. Überzeugungskäufer schließen sich zudem immer häufiger Initiativen der solidarischen Landwirtschaft an und suchen Direktverkäufer auf. Viele Berufstätige wollen es ihrerseits bequem: Sie kaufen im Internet oder auf dem Nachhauseweg ein. Ob Marketingkampagnen rund um die Herkunft eines Produktes tatsächlich neue Kunden in den Bio-Fachhandel spülen, bleibt deshalb fraglich.
Der Kass-Haff versucht, beides zu verbinden: Eine Direktvermarktung, die in eine Naturata-Ladenstruktur integriert ist. Kunden können auf dem Hof-Naturata vor Ort produzierte Milcherzeugnisse, Eier, Fleisch und Gemüse kaufen. Geführt wird der Laden von der Landwirtin Anja Staudenmayer. „Wir können die Wirtschaftskrise leicht abfedern, weil wir über die Jahre eine Stammkundschaft aufgebaut haben“, erläutert sie. Dennoch spiegele sich auch in ihrer Buchführung die allgemeine Markt-Entwicklung der vergangenen Jahre. Der Kass-Haff in Rollingen ist ein Medienliebling. Zuletzt schilderte die Revue vor einem Monat, wie sich dort zwei Hähne um eine Mulde streiten und drei kleine Ferkel in ihrer Box rumrennen. Im Mai veröffentlichte die RTL-Website eine Fotoreportage des Hoffestes, zum Anlass des zehnjährige Bestehens des Unternehmens. Kinder essen Pommes neben Ziegen oder fahren mit Go-Karts an Kühen vorbei. Die Betriebsleiter, Tom Kass und Anja Staudenmayer, setzen auf Transparenz und Medienpräsenz, sie erhoffen sich dadurch mehr Wertschätzung. In der Betriebskasse bleibt die Lage derweil angespannt. Auch weil der Hof zugunsten des Tierwohls nicht auf eine dichte Besatzung setzt: Auf dem Kass-Hof hält man 0,8 ausgewachsene Rinder pro Hektar, auf anderen Höfen in Luxemburg sind es knapp zwei. Zudem versteht sich der Hof als pädagogische Anlaufstelle, wo Aktivitäten für Kinder stattfinden. Seine Beliebtheit wächst unter englischsprachigen Expats aus dem Speckgürtel, weshalb die Hofleiter einen Crowdfunding-Aufruf im letzten Winter zusätzlich auf Englisch lancierten. Ihre Mission sei es, „to promote the reappropriation of a living agriculture“. Man sagt über Facebook „thank you“ für die finanzielle Unterstützung.
Die Leiter des Kass-Haff sowie die Führungsetage von Oikopolis (Biog, Naturata, Biogros) sind, wenn nicht offizielle Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft, so doch zumindest anthroposophisch geprägt. Die Anthroposophie geht von einer „geistigen Welt“ aus, deren erkennen in letzter Instanz nicht über die Empirie führt, sondern das Denken und die übersinnlichenWahrnehmung. Die über diesen Weg erlangten Erkenntnisse sollte man in die Praxis überführen, wie beispielsweise die Landwirtischaft. So schlug der Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner (1861-1925), vor, anthroposophische Landwirtschaften sollten selbsthergestellte Präparate aus tierischen und pflanzlichen Substanzen synthetisieren, um kosmische Kräfte zu bündeln, und so den Boden zu stimulieren. In den 1960er und 70er-Jahren war der biologische Anbau von der anthroposophischen Landwirtschaft beeinflusst, die zu dem Zeitpunkt bereits belastbare Vermarktungsstrukturen unter dem Demeter-Label aufgebaut hatte. Änder Schanck erinnert sich, wie er damals im anthroposophischen Milieu eine neue Heimat fand, um einem katholischen und konservativen Ösling zu entfliehen: „Da gab es viele 68er, es wurde gestrickt, an der Brust gestillt, und alle hatten lange Haare“ (d’Land 16.10.2020).
In Deutschland hat der Waldorfschüler (ebenfalls eine anthroposophische Institution) Götz Rehn 1985 das Unternehmen Alnatura geründet. „Unsere Unternehmensleistungen entwickeln wir als Arbeitsgemeinschaft auf der Grundlage einer ganzheitlichen Menschen- und Weltauffassung“, verkündet die Internetpräsenz von Alnatura in einer Mischung aus unternehmerischem und anthroposophischem Duktus. Der Umsatz des Unternehmens lag 2017/2018 bei 822 Millionen Euro, zwei Jahre später bei knapp über einer Milliarde. Im Geschäftsjahr 2021/22 verkündete auch Alnatura eine Flaute. Götz Rehn sprach im September 2022 im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom „schlimmsten Einbruch im Biomarkt seit 35 Jahren“. Die Verbraucher seien verunsichert und wollten sparen, deshalb greifen sie zu Waren aus dem Discounter, analysiert der 72-jährige Götz Rehn. Deren Preise aber würden „lügen“, denn es handele sich hierbei um subventionierte Industriewaren, für die später der Steuerzahler aufkommen muss, indem er für Umweltschäden zahlt. Immer wieder aber steht Alnatura in der Kritik, weil die Leitung einen Betriebsrat auf Ebene des Gesamtunternehmens durch Gerichtsverfahren und Arbeitsplatzabbau verhindert. Götz Rehn versucht, die Vorwürfe abzuschwächen, indem er darauf hinweist, dass das Unternehmen unter anderem Weihnachts- und Urlaubsgeld auszahlt und die Beteiligung an der Wertschöpfung für das Personal erleichtert. Naturata zählt um die 200 Mitarbeiter; auch ihr Arbetisverhältnis ist nicht durch einen Kollektivvertrag geregelt. Zwar arbeitet eine Personaldelegation mit dem OGBL zusammen, aber sie sucht aktuell keine Gespräche über Tariflöhne. Aus der Gewerkschaft heißt es, die Arbeitsbelastung und der Produktivitätsdruck falle gringer aus als in den großen Supermärkten; der Lohn allerdings auch. Laut Statuten darf zudem das Gehalt der Naturata-Führungsetage, dasjenige der Verkäufer nicht um ein Vierfaches übertreffen.
Mitarbeiter von Naturata sind nicht unbedingt angetan von Alnatura-Produkten, obwohl Götz Rehn ebenfalls aus der anthroposophischen Szene stammt. Und man zeigt sich etwas schockiert über die Preistreiberei im Nachbarland. Alnatura steht mittlerweile für die Discountmarke im Bio-Segment, – eine Marke die man im Naturata nicht kaufen kann. Zusätzlich wissen die Naturata-Buchhalter, dass sich der Biokonsum zusehends in die Supermarkt-Ketten verlagert und seit 2005 vertreibt Cactus die Marke Alnatura. „Vor allem im Trockensortiment führen wir viele Alnatura-Waren, aber auch beispielsweise Getreidemilch und vegetarische Aufstriche“, erläutert die Pressestelle. Man versuche hochwertige Bio-Erzeugnisse zu einem geringen Preis anzubieten und die Kunden überdies wöchentlich mit Sonderangeboten an den Bio-Regalen zu überraschen. Deshalb sei der Markt nicht nennenswert verengt worden. Cactus ist aber nicht nur ein Konkurrent für Oikopolis, denn zugleich ist die Supermarkt-Kette ein verlässlicher Abnehmer der Marke Biog und somit der Bio-Landwirte. Von dem belgischen Händler Delhaize war im Wort Ende 2022 eine andere Analyse zu lesen: Der Einkaufskorb fülle sich in ihren luxemburgischen Standorten seltener mit Biolabels. Der Kontrast zu den Lockdown-Phasen sei „beeindruckend“ gewesen. Dabei haben sich die Preise zwischen der biologischen und künstdüngerbetriebenen Landwirtschaft angenähert. Denn die über chemische Prozesse hergestellten Düngemittel sind derzeit wegen der Energiekrise knapp und teuer. Trotzdem ist Bioware nicht beliebter geworden.
Neben Naturata gibt es in Luxemburg seit 2017 zwei Naturalia-Läden. Einen in der Joseph Junck-Straße im Bahnhofviertel, wo sich Touristen, Drogenabhängige, Bankangestellte und Prostituierte begegnen, und einen in der Oberschichtengasse Rue Philippe II. Die Bio-Kette wurde 2008 von Monoprix, einer Tochtergesellschaft der Casino- Gruppe, aufgekauft. Mit 38 Geschäftsstellen legte Monoprix 2008 los, hatte seine Verkaufspunkte bereits 2013 verdoppelt, und erwirtschaftete zu diesem Zeitpunkt Margen von 30 Prozent. An solche Wachstumsraten haben die Naturalia Gründer, das Landwirtepaar Trocmé, das 1973 am Nord-Bahnhof in Paris einen Laden der kurzen Wege eröffnet hatte, wahrscheinlich nicht gedacht. Eine Werteverlagerung fand ebenfalls statt, denn das Ehepaar wollte damals Produzenten bei der Direktvermarktung unterstützen – heute versucht Naturalia mit Großeinkäufen die Preise zu drücken. Ihr Konkurrent in Frankreich ist die größtenteils genossenschaftlich organisierte Kette Biocoop. 2021 stellte auch sie, wie andere Bio-Geschäftszweige fest, dass der Markt stagnierte – erstmalig in der Geschichte des Unternehmens, das seit der Jahrtausendwende Wachstumsraten von über 10 Prozent einfuhr.
Des Weiteren gibt es in Luxemburg vier Verkaufsstellen von Alavita (Bonneweg, Mersch, Junglinster, Limpertsberg). Gegenüber dem Wort gab sich deren Chefin Anne Harles zufrieden, in ihren Läden würde die Nachfrage nicht abflachen. Zwar wurde für das Jahr 2021 ebenfalls ein Gewinnrückgang festgestellt, doch der sei zuvorderst an die Investitionen in den neuen Laden in Mersch gekoppelt. In den Alavita-Filialen werden vor allem eine frankophone Kundschaft und das grüne Bildungsbürgertum bedient. Anders als Naturata bietet Alavita jedoch nicht ausschließlich Bio-Produkte an, sondern zusätzlich regionale aus dem konventionellen Anbau. Die Verlagerung des Fokus von bio auf regionale und saisonale Erzeugnisse stört die Bio-Fraktion – hieran wirke die Politik und Zivilgesellschaft kräftig mit. In den vergangenen Jahren „sprangen viele auf Produkte um, die mit regional und saisonal beworben wurden“, versucht Daniela Noesen, Direktorin der Vereenegung fir Biolandwirtschaft, die Trendwende im Wort zu analysieren.
Die Regierung hat in einem nationalen biologischen Aktionsplan (PAN Bio 2025) festgehalten, dass in zwei Jahren 20 Prozent der Agrarflächen ohne Kunstdünger bewirtschaftet werden sollen. Allerdings liegt der Anteil an biologischen Nutzflächen derzeit bei 6,1 Prozent (der EU-Durchschnitt liegt bei etwas mehr als sieben Prozent). Die 20 Prozent sind nun in Ferne gerückt – auch wegen der Inflation.