Vor dem Autopolis-Gebäude in Bertrange steht traurig ein grauer Ioniq 5 Hyundai. Über einen giftgrünen Aufkleber auf der Windschutzscheibe mit der Aufschrift „8 000 Euro Prämie“ rinnen Regentropfen – der 100 Prozent elektrisch fahrende Hyundai wird vom Staat ordentlich bezuschusst. Drinnen wird ein ähnliches Modell auf trockenen Rädern ausgestellt. Ein potenzieller Kunde begutachtet den Wagen. Der zwei Köpfe kleinere Verkäufer im Anzug behauptet begeistert: „So hat man sich früher die Autos der Zukunft vorgestellt. Außerdem ähnelt die Karosserie, der eines Porschen.“ Als billigen Werbespruch kann man seine Aussage nicht abtun. Tatsächlich mutet der in Szene gesetzte Ioniq futuristisch an: Seine beiden LED-Scheinwerfer lugen aus einem schmalen Spalt, dessen Zwischenbereich beleuchtet ist, im Innern besitzt er zwei große Bordcomputer-Bildschirme und im hinteren Bereich soll eine Wohnwohlfühl-Atmosphäre entstehen. In einem weiteren Showroom steht ein Opel E-Corsa. Er präsentiert sich eher als praktischer Kleinwagen denn als Elektro-Kampfansage.
„Die Nachfrage nach Elektroautos ist am explodieren“, erklärt ein Opel-Verkäufer im Autopolis-Zentrum. Privatautos werden allerdings kaum noch gekauft, sondern vor allem geleast – mittlerweile neun von zehn Autos. „Da noch viele Unsicherheiten wegen den Ladestationen bestehen und die Technologie neu ist, finden Kunden die Leasing-Option attraktiv.“ Und die Preise seien interessant, fügt er hinzu, für 299 Euro im Monate könne man den Corsa fahren (der Verkaufspreis liegt bei etwa 35 000 Euro). Hinter dem Händler befindet sich ein Graffiti von dem Fußballstar Jürgen Klopp mit Brille und Kappe neben dem Markenlogo: „Er ist unser Opel-Botschafter.“ Vor Jürgen Klopp ist ein schwarzer Teppich ausgebreitet, „hier wird der neue Astra und ein Elektro-Auto ausgestellt werden“. Im ersten Stockwerk wurde ein Elektroauto von Kia vor einer digitalen Lichtshow-Projektion plaziert. Bei weitem nicht alle ausgestellten Neuwagen fahren 100 Prozent elektrisch, aber die Aufmerksamkeit wird auf sie gelenkt. In der Vorwoche des Autofestivals sind kaum Kunden unterwegs, die Branche erwartet trotzdem einen hohen Andrang.
Das erste Autofestival fand 1965 statt. Anders als bei den Autosalons in Paris und Brüssel werde in Luxemburg „keine Show aufgezogen“, erläuterte der Sekretär der Fegarlux Paul Olinger 1976 gegenüber dem Wort. Und rühmte die Vorteile dieses Konzepts: „Auf dem Salon wird der Besucher von den vielen Eindrücken überwältigt, praktisch erschlagen, da er sich in einer großen Masse von Leuten nach vorne bewegt, kaum jemand befragen kann. Im Gegensatz haben wir unser Autofestival in Luxemburg auf die eigenen Garagen ausgedehnt.“ Der Einwohner Luxemburgs müsse die Möglichkeit haben, „sich alle Modelle in Ruhe anzusehen“ sowie Testfahrten zu buchen. Bis heute ist das Festival auf verschiedene Showrooms ausgedehnt, mittlerweile sind es 160, die von 70 Auto- und Motorradhändlern geleitet werden. In den 1970-er Jahren appellierte die gewerkschaftsgeleitete Union Luxembourgeoise du Consommateur (ULC) an die Organisatoren, „den Automobilisten zum konsumbewußten Wirtschaftspartner zu erziehen“. Autofahrer sind treue Konsumenten: regelmäßig kehren sie an Tankstellen ein und für die Schmierung, Zündung und den Austausch von Standardteilen beim Mechaniker. Der Appell der ULC war allerdings überflüssig, denn trotz Ölkrise und Rezession Mitte der 1970-er-Jahre verstärkt sich bei der Fegarlux der Eindruck „auf einer Autoinsel zu wohnen“. Während in den Nachbarländern die Rezession den Automarkt abflauten ließ, behauptete Paul Olinger: „Um ganz ehrlich zu sein, wir hier in Luxemburg haben nichts davon verspürt.“ In Luxemburg sei man „par définition froh mit seinem Auto“.
Vergangenes Jahr umfasste der Fuhrpark 530 000 Fahrzeuge, das sind über 200 000 mehr als im Jahr 2000. Rund 53 700 Fahrzeuge wurden 2022 neu zugelassen, darunter 42 092 Personenkraftwagen und etwa 4 000 Kleintransporter. Im Vergleich zu vorherigen Jahren wurden deutlich weniger Autos angemeldet. Ein europaweiter Trend, der sich durch die Inflation, Lieferengpässe und Unsicherheiten gegenüber neuen Technologien erkläre, wie der Branchenverband Acea am Mittwoch in Brüssel verkündete. Beliebt sind vor allem Volkswagen, sie machen eine Million der in der EU neu immatrikulierten Autos aus. Auch in Luxemburg bleibt die Marke auf Platz eins mit 14 Prozent, gefolgt von BMW (10,4 Prozent) und Mercedes (neun Prozent). 15 Prozent der Neuwagen fahren 100 Prozent elektrisch, bisher machen sie aber nur circa drei Prozent des Fuhrparks aus. Gäbe es weniger Lieferengpässe, würden noch mehr Autos der E-Generation umherfahren. Der Anteil an Dieselautos im Straßenverkehr fällt hingegen seit 2019 und liegt derzeit bei 35 Prozent, bald werden Dieselautos nicht mehr die Liste anführen. Jedes zweite neuangemeldete Fahrzeug ist derzeit ein Benziner. Dabei nimmt die CO2-Belastung durch neue Modellen ab. Lag sie 2019 noch bei 160 Gramm pro Kilometer, liegt sie jetzt bei 120.
Das Interesse an E-Autos wurde in der Kundschaft geweckt. Aber die Infrastruktur hinke dem Furhparkwandel hinterher: „Es ist erschreckend, wie schlecht die die Unternehmen und Wohngebäude an Elektromobilität angepasst sind.“ Es fehle massiv an Ladestationen und die Unternehmen planten sie nicht vorausschauend mit ein, monierte Jean-Claude Juchem, Präsident des Automobilclub (ACL), in einem RTL-Interview im November. Er greift für diese Aussage auf eine Studie zurück, die der ACL und die Handwerkskammer veranlasst hatten. Der ACL ist mit seinen fast 200 000 Mitgliedern der größte Verein Luxemburgs. Jean-Claude Juchem will jedoch das Image eines autovernarrten Vereins loswerden: „Wir Menschen sind Fußgänger, Radfahrer, Nutzer der öffentlichen Verkehrsmittel, Autofahrer und vielleicht auch Wohnmobilbesitzer“, sagte er im Interview. Der Job der ACL sei es, mobilen Menschen zu assistieren. Er ist zudem davon überzeugt, dass sich derzeit ein Mobilitätswandel vollzieht. Junge Menschen seien immer seltener daran interessiert, ein einiges Auto zu besitzen, sondern daran, dasjenige Transportmittel zu nutzen, das sie zu einem bestimmten Zeitpunkt am bequemsten befördert. Konzepte wie Carsharing werden bald eine größere Rolle spielen. „Die Mobilität wird zu einer multimodalen Dienstleistung mutieren, für die private und öffentliche Akteure gemeinsam an einem Mobilitätsnetz arbeiten“, analysiert er. In diesem Modell würden Autos mehr als nur 45 Minuten täglich zum Einsatz kommen, wie es aktuell der Fall ist. „Mee individuell Mobilitéit bleiwt een essentielle Besoin. Den Auto bleiwt wichteg.“
In der Urbanismusforschung zirkuliert überdies neben multimodalen Verkehrskonzepten die 15-Minuten-Stadt als Lösungsvorschlag für Verkehrsprobleme. Der Pariser Professor für Städteplanung Carlos Moreno hat herausgearbeitet, dass die Lebensqualität in Stadtvierteln steigt, wenn ihre Einwohner sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad fortbewegen können – also ohne Parkplatzprobleme und ohne auf einen Bus oder eine Bahn warten zu müssen. Deshalb solle die städtische Verwaltung die Entstehung von Schulen, Arbeitsplätzen und Freizeitaktivitäten in jedem Viertel begünstigen, damit diese Orte innerhalb von 15 Minuten erreichbar sind. Diese Überlegungen sind nicht neu. 1973 schrieb André Gorz in dem Essay „L’idéologie sociale de la bagnole“ man solle „auf Fahrräder, Straßenbahnen, Busse und fahrerlose Taxis umsteigen“, damit „der Stadtteil oder die Gemeinde“ wieder zu einem „Mikrokosmos wird, in dem die Menschen arbeiten, wohnen, sich erholen, lernen, kommunizieren, sich austoben und gemeinsam das Umfeld ihres Zusammenlebens“ gestalten können. Leider gebe es immer mehr „Autobahnstädte“ in denen „man nicht frei ist, ein Auto zu besitzen oder nicht“, weil die Städte so geplant seien, dass der Autobesitz unumgänglich würde, so der Soziologe Gorz. Wissenschaflter/innen des Weltklimarats argumentieren, die 15-Minuten-Stadt könne zudem die Abhängigkeit vom privaten Auto bremsen, das auch trotz emissionsfreiem Motor über Bremsen und Reifenabrieb Feinpartikel freisetzt. Der Abrieb von Autoreifen ist gar die Hauptursache für Mikroplastik in Gewässern, wie das Fraunhofer Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik errechnet hat: Bis zu 120 000 Tonnen werden jedes Jahr in Deutschland abgefahren.
Die Stimmen aus der Wissenschaft, die Inflation, die Umweltprobleme und Lieferengpässe stehen dem Geschäft angeblich nicht im Weg. „Mir stelle fest, dass dem Lëtzebuerger Resident d’Loscht um Auto trotz alle Krisen net vergaangen ass“, behauptete der Fedamo-Präsident Philippe Mersch vergangene Woche während einer Pressekonferenz (auf der drei Frauen und 14 Männer anwesend waren). Und bekräftigte: „Den Autofestival ass a bleiwt ee klengen Deel vun der Lëtzebuerger Normalitéit.“ 5 000 Mitarbeiter/innen sind in der Branche beschäftigt und das Autofestival bleibt ein inoffizielles Kaufkraft-Barometer. Banken und Versicherungsagenturen ihrerseits unterstützen das Festival mit Sonderangeboten; die Raiffeisen-Kasse verkündete in der Vorwoche des Festivals, für Autokredite würden bis Ende März keine Verwaltungsgebühr sowie Vorteilszinssätze anfallen. Einige Presseorgane werben darüber hinaus für das Autofestival. Diesen Dienstag lag das automoto magazine als Beilage im Luxemburger Wort. Dessen Chefredakteur, der ehemalige RTL-Journalist Alain Rousseau, reiste nach Südafrika zur Testfahrt des VW-Amarok und schlussfolgerte: „Cet Amarok millésime 2023 est une véritable invitation au voyage!“. Auch autorevue-Journalist Marc Schonckert fuhr den Amarok auf den Küstenstraßen rund um Kapstadt. Sein Fazit: „Der viertürige Pick-up hat Kraft, Allrad und Ausstrahlung“. Gleich auf Seite sechs verkündet die autorevue die Lieferengpässe seien passé, es sei „Zeit sich auf die Suche nach dem Neuen zu machen“. Schon in den 1970-er-Jahren war die Presse für die Händler ein zentraler Partner. So schrieb das Wort: „Unser heißgeliebtes Automobil wird von allen Markenvertretern von seiner besten Seite in sämtlichen Massenmedien mit ungeheurem Werbeaufwand angepriesen.“