Bei Dissidenten gibt es das oft: Ein Schlüsselerlebnis wirft sie aus der regimetreuen Bahn. Der deutsche Ökonom Markus Krall, geboren 1962, war über 20 Jahre lang ein Büttel der Finanzbranche: Im Gefolge von Basel II entwickelte er die Systeme, mit denen die meisten europäischen Banken die Kreditwürdigkeit bewerten. Als Risiko-Experte arbeitete er auch für Versicherungen wie die Allianz und Unternehmensberater wie McKinsey, Roland Berger oder zuletzt Goetzpartners. Dann kam die Lehman-Pleite. Aus seiner Sicht nicht die Schuld von Gierbankern, sondern Staatsversagen: Vermurkste Gesetze als Auslöser, tumbe Landesbanken, unfähige Aufsichtsbehörden, „intellektuell völlig überforderte Politiker“ und „Minister, die im Hochgefühl ihrer Wichtigkeit ganze Volkswirtschaften ruinieren“. Seither sieht Krall rot.
Seit der Finanzkrise von 2007 kämpft Markus Krall gegen den „pandemischen Sozialismus“. Weniger gegen linke Parteien, Journalisten und Klimaschützer – obwohl er auch die gerne auf Twitter anpöbelt. Vor allem gilt Kralls Zorn dem „Geldsozialismus“: Die „planwirtschaftliche Geldpolitik“ der Zentralbanken sauge die arbeitenden Menschen aus, mäste das „Funktionariat“ einer Politiker- und Bürokratenkaste und schaufle enorme Summen nach oben zu einer kleinen Klasse von Spekulanten. Das ganze Finanzsystem überlebe schon seit Jahren nur noch dank Bilanzbetrug: „Wirecard auf Crack“.
Zunächst versuchte Krall, eine unabhängige europäische Ratingagentur zu gründen, um das „staatlich gewollte“ Oligopol der privaten US-Ratingagenturen zu brechen. Dieses Projekt scheiterte 2013 an fehlendem Geld. Darauf verlegte sich Krall aufs Schreiben. Mit Verzockte Freiheit. Wie die Hybris unserer Eliten die Zukunft unseres Kontinents verspielt veröffentlichte er eine Analyse der Eurokrise. Seine nächsten Bücher erreichten ebenfalls Spitzenplätze bei Amazon: Mit Der Draghi-Crash. Warum uns die entfesselte Geldpolitik in die finanzielle Katastrophe führt (2017) wollte Krall „ganz bewusst zeigen, dass es der kleine Mann ist, der am Ende die Zeche zahlt“. In Wenn schwarze Schwäne Junge kriegen. Warum wir unsere Gesellschaft neu organisieren müssen (2018) machte er „Risikophobie“ als Hauptübel aus: Die Unterdrückung von Volatilität schiebe Desaster nur auf – und mache sie noch größer.
Seit September 2019 ist Krall der Chef der Degussa-Goldhandel, des größten bankenunabhängigen Edelmetallhändlers in Deutschland. Für ihn auch ein Akt des Widerstands: „Der Goldpreis ist ein Misstrauensvotum gegen die Zentralbanken.“ Sein jüngstes Buch Die bürgerliche Revolution. Wie wir unsere Freiheit und unsere Werte erhalten stieg im März 2020 gleich auf Platz 2 in die Spiegel-Bestsellerliste des konventionellen Buchhandels ein. Stolz ist Krall auch darauf, dass seine Vorträge mittlerweile nicht nur Mittelständler-Clubs und AFD-Ortsvereine erreichen, sondern auf Youtube millionenfach gesehen werden: „Früher haben sich höchstens ein paar Studenten für Geldpolitik interessiert.“
Meist gehen Crash-Propheten kein Risiko ein: Wer hinreichend vage unkt, liegt immer richtig. Krall dagegen hat sich schon vor Corona festgelegt: Ab Ende 2020 kippe unser Finanzsystem. Die Negativzins-Politik der Zentralbanken führe zu immer mehr Zombiefirmen (d’Land, 4.9.2020) und zerstöre die Geschäftsbanken. Krall hat die Ertragserosion aufgezeichnet: Sein Diagramm aller deutschen Banken, aufgereiht nach Cost-Income-Ratio, zeigt auf einen Blick, wann welche Bank in die roten Zahlen rutscht. Die Deutsche Bank zum Beispiel sei bereits seit 2018 in den Miesen – daher werde sie trotz eines angeblichen, bilanzierten Eigenkapitals von über 60 Milliarden Euro an der Börse nur noch mit einem Wert von rund 16 Milliarden gehandelt. Zum Jahresende 2020 sah er den Moment kommen, da die Mehrheit aller Banken Verluste schreiben werde. Sie könnten dann keine Kredite mehr vergeben oder verlängern – „das Todesurteil für die Zombiefirmen“. Ausfallende Kredite wiederum würden weitere Banken vernichten.
Diese Pleite-Spirale sei nicht zu stoppen. Trotzdem werde die Politik mit allen Mitteln versuchen, die Banken zu retten, erst über die vorgesehen EU-Mechanismen, dann direkt über die EZB. Erfahrungsgemäß werde dafür die dreifache Geldmenge der Verluste benötigt: Nach der Dotcom-Krise des Jahres 2000 reichten rund 40 Milliarden Euro, bei der Finanzkrise von 2008 waren es 800 Milliarden. Da jetzt die Banken in Euroland nach Kralls Rechnung trotz allerlei Bilanzkosmetik ihr Eigenkapital „in Wahrheit schon längst aufgebraucht haben“ und mit etwa 2,6 Billionen Euro „unter Wasser liegen“, werde die EZB nun rund acht Billionen Euro drucken müssen. Das werde eine Geldentwertung auslösen, die der Euro politisch nicht überstehen könne.
Warum ausgerechnet jetzt? Jahrelang hat das Schuldenmachen funktioniert. Wieso nicht einfach die Asset-Blase noch weiter aufblähen? Das „japanische Modell“ sei für Europa keine Option, meint Krall, der in Nagoya zu Themen des japanischen Aktienmarkts promoviert hat. Auch die Japaner würden einen hohen Preis zahlen: Schrumpfung der Durchschnittseinkommen um 20 Prozent seit 2000 und eine „demographische Katastrophe“, weil Wohnraum so unerschwinglich sei wie Kinder. „Wir werden aber nicht so lange durchhalten“, ist sich Krall sicher: Anders als der Einheitsstaat Japan habe die Eurozone Sollbruchstellen.
Der Start der Hyperinflation lasse sich absehen, zitiert Krall historische Studien: Deutschland 1923, Simbabwe und Venezuela würden zeigen, dass das Vertrauen in eine Währung endgültig kollabiere, sobald das Seigniorage-Kapital der Zentralbank die Wirtschaftsleistung ihres Währungsraums übersteigt. Vor Corona habe Euroland ein Bruttosozialprodukt von zehn Billionen gehabt – das sei nun geschrumpft. Die Bilanzsumme der EZB sei dagegen im ersten Halbjahr 2020 um 2 500 Milliarden auf fast sieben Billionen Euro gestiegen. Ergo könne die EZB noch vielleicht zwei, drei Billionen Euro drucken, bis es knallt – eine Frage von wenigen Monaten.
Der Crash werde die derzeitigen Eliten wegfegen und unweigerlich zu einem System- und Verteilungskonflikt führen: „Freiheit oder Sozialismus!“ Um das Feld nicht ein „paar tausend Antifa-Chaoten“ zu überlassen, hat Krall im vergangenen Jahr in Frankfurt die überparteiliche, libertäre „Atlas-Initiative“ gegründet, die mittlerweile nach eigenen Angaben 5 000 Mitglieder hat. Sie trommeln für eine „bürgerliche Revolution“. Die Zukunft genese nur mit „Marktwirtschaft total“: Abschaffung der EZB, aber auch der meisten Ministerien und Gesetze. Wettbewerb verschiedener Währungen. Kein Wahlrecht für Sozialhilfe- und Subventionsempfänger. Ansonsten Werte wie „Ehe und Familie“ und „Religion“. Kurz gesagt: „weniger Berlin, mehr Schweiz“.
Dass seine Kombination von ultraliberaler Wirtschaftspolitik und reaktionärem Gesellschaftsmodell zu Widersprüchen führen könnte, ahnt Krall wohl selbst. Jedenfalls hat seine Initiative jetzt erst einmal „Fachkommissionen für alle wesentlichen Politikbereiche“ eingerichtet, um für die Zeit nach der „Bereinigungskrise“ genauere Positionen auszuarbeiten. Offensichtlich kommt auch die geplante „Republik der Freiheit“ nicht ganz ohne Bürokratie aus, und der Aufbau der neuen Ordnung wird wohl viel langwieriger werden als der Zusammenbruch der alten. Falls nicht sowieso die Greta-Thunberg-Jugend gewinnt.
Kralls Krisenfahrplan
Auf ein Quartal mehr oder weniger möchte sich Markus Krall nicht festlegen. Der grundlegende Ablauf der Krise stehe aber fest. Demnach kommen auf uns „drei Phasen der Enteignung“ zu. Die Deflationsphase habe bereits begonnen: Die Pleite-Spirale von Zombiefirmen und Banken werde die Blase der Aktien- und Immobilienpreise platzen lassen, also das Produktivvermögen entwerten. Die „Rettung“ der Banken werde dann zu einer Hyperinflation führen, die alle nominalen Vermögen ausradiert. Die flächendeckende Zerstörung von Sparguthaben, Lebensversicherungen und Renten werde zuerst den Euro kollabieren lassen, voraussichtlich Mitte 2021, später auch andere Fiat-Währungen. Bei der abschließenden Währungsreform würden dann die „Krisengewinnler“ zur Kasse gebeten, das heißt alle, die irgendetwas an Eigentum durch Deflation und Inflation gebracht haben. Absehbar seien zum Beispiel Zwangsabgaben auf Hausbesitz.