Was beschäftigt die EU-Kandidat/innen von déi Lénk? Anastasia Iampolskaia spricht über Antikapitalismus, den Ukraine- und Gazakrieg

Teil einer Bewegung

Eu-Kandidatin Anastasia Iampolskaia
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 24.05.2024

Déi Lénk bestreitet diesen EU-Wahlkampf mit einer jungen Kandidat/innen-Liste. Der Altersdurchschnitt liegt bei knapp über 30 Jahren. Eine der sechs Kandidaten ist Anastasia Iampolskaia. Die 25-jährige Studentin hat dem Land am Dienstagnachmittag ein Treffen am Hamilius vorgeschlagen. „Da er nicht so weit von meiner Arbeit entfernt liegt.“ Sie stapelt zehn Stunden pro Woche Material im Nationalarchiv. „Zusätzlich bin ich derzeit mit Rundtischgesprächen und Parteitreffen beschäftigt – da bleibt kaum Zeit, meine Masterarbeit fertig zu schreiben.“ An der Universität-Maastricht hat sie in den vergangenen Jahren Europawissenschaft studiert. Ihre noch nicht abgeschlossene Arbeit befasst sich mit „Maskulinitätsaufassungen des EU-Militäreinsatzes im Mali“. Es handelt sich um eine Schreibtisch-Recherche: „Ich analysiere anhand von offiziellen Dokumenten, wie der Anspruch der Intervention und deren Ausführung in Bezug auf Genderfragen auseinanderklafft.“ In erster Linie wolle sie das Feld dokumentieren und enthalte sich einer normativen Aussage. Sie bezeichnet sich als abinär, für diesen Text könnten allerdings weibliche Pronomen verwendet werden.

Anastasia Iampolskaia ist in Beggen aufgewachsen. Ihre Kindheit ist geprägt von Turn-, Eiskunstlauf- und Ballettunterricht. Hobbys, die vor allem ihre aus der früheren Sowjetunion emigrierten Eltern für sie ausgewählt haben. „Dort traf ich auf viele andere russischsprachige Kinder und Trainer.“ Sonntags nahm sie zudem regelmäßig am russischen Sprachunterricht teil, der vom Puschkin-Zentrum organisiert wurde. Vor über zwanzig Jahren ließen sich ihre Eltern scheiden. Ihr Vater ist ein jüdisch-stämmiger Russe, der vor seiner Emigration in Transnistrien lebte. Er hatte sich dort im Ingenieurwesen einen Namen gemacht. Ihre Mutter hat einen kaukasischen Hintergrund und arbeitete vor dem Fall der Sowjetunion als Kindergärtnerin. In Luxemburg war sie zeitweise Kassiererin; was ihr Vater derzeit arbeitet, wisse sie nicht.

Anastasia Iampolskaia ist in Luxemburg geboren, hat aber zugleich den moldawischen Pass. „Religion spielte bei uns keine Rolle, wir feierten den 6. Januar, das orthodoxe Weihnachten als kulturelles Fest.“ Als Jugendliche besuchte sie das Lycée Aline Mayrisch und engagierte sich im Schülerkomitee, Jugendparlament und europäischen Jugendparlament. Sie beschreibt sich als eher introvertierte Person, die von sozialer Ungerechtigkeit umgetrieben wird, und sich deshalb zur Politik hingezogen fühlt. „Ich will Teil einer politischen Bewegung sein und nach Lösungen für soziale Probleme suchen.“ Im Dezember 2020 entschloss sie sich, Mitglied bei déi Lénk zu werden: „Für mich steht die Partei für soziale und ökologische Gerechtigkeit.“

Am Dienstag Morgen war Anastasia Iampolskaias Mitstreiterin, die Bibliothekarin Tania Mousel (34), im RTL Radio zu Gast. Zum Ukrainekrieg sagte sie, sie „stehe der Nato kritisch gegenüber“. Bevorzugen würde die Linke ein gemeinsames Verteidigungsbündnis, das unabhängig von der Nato und den USA handlungsfähig sei. Die aktuelle Aufrüstung betrachte man als politische Sackgasse, die EU müsse sich verstärkt für Friedensverhandlungen einsetzen. Ana Correia da Veiga (41) gab eine ähnliche Position im Radio 100,7 wieder: „Mir fannen et schwéier d’Demokratie mussen am Härtekampf ze verteidegen.“ Als der Journalist sie darauf hinwies, dass der Kreml diese Haltung nicht beeindrucke, meinte sie, deshalb sei déi Lénk auch nicht gegen Waffenlieferungen. „Awer Waffen dohigeheien, wäert de Problem net léisen“, betont Anastasia Iampolskaia im Gespräch mit dem Land. Den Eindruck kann man zu diesem Zeitpunkt haben. Aber wie könnten die Friedensverhandlungen aussehen? Und was wenn Wladimir Putin Verhandlungsangebote systematisch ausschlägt? Darauf gibt sie eine überraschende, weil nicht strategische Antwort: „Mir sinn all Mënschen.“ In Russland leben einige Verwandte von ihr, aber der Kontakt ist wegen der geografischen Distanz mit der Zeit abgebrochen. Könnte sie sie heute noch besuchen? „Theoretisch schon, praktisch eher nicht.“

Im Wahlkampf für das nationale Parlament im Oktober 2023 versuchte die Linke, den Ukraine-Krieg zu umschiffen. Auf einem Wahlfest im September sprachen die Spitzenkandidat/innen über alles Mögliche aber nicht über den russischen Angriff auf die Ukraine – weil das Nationalkomitee keine einheitliche Position gegenüber Waffenlieferungen fand. Im EU-Wahlkampf ist die Verteidigungspolitik nun Dauerthema.

Neben Anastasia Iampolskaia und Tania Mousel ringen die beiden politischen Koordinatoren der Partei Alija Suljic (28) und Ben Muller (26) sowie der freischaffende Historiker André Marques (28) mit um Stimmen für den 9. Juni. Dass sich déi Lénk für eine junge Liste entschieden hat, dafür gebe es mehrere Gründe, führte Tania Mousel im RTL-Radio aus. Man wolle den politischen Nachwuchs fördern – so könnten sie erste Erfahrungen an der vordersten Debattenfront sammeln. Und vielleicht würden sich junge Menschen dazu ermutigt fühlen, der Partei beizutreten. Im Gegensatz zu den anderen Parteien geht die Liste ohne Spitzenteam ins Rennen. Eigentlich sollte Ana Correia da Veiga die Liste anführen. Sie hat als ehemalige Stater Gemeinderätin politisch Erfahrung gesammelt und konnte sich bei den Kammerwahlen als Zweite auf der linken Zentrumsliste hinter David Wagner platzieren. In anderthalb Jahren wird sie deshalb aufgrund des Rotationsprinzips in die Kammer nachrücken. Trotzdem hätte sie eine solche Sonderposition als „irgendwéi net stëmmeg“ empfunden, wie sie im Radio 100,7 erklärte.

Um an einen Sitz im EU-Parlament zu kommen, müsste die Partei ihr Resultat von 2019 mehr als verdoppeln. Damals errang sie 4,83 Prozent der Stimmen. Die Fraktion „die Linke“ (GUE/NGL) ist mit 37 Parlamentsmitgliedern derzeit die kleinste Fraktion im europäischen Parlament. Vorsitzende der Fraktion sind die Französin Manon Aubry von La France insoumise (LFI) und Martin Schirdewan von der deutschen Linken. Die Gruppierung hofft, durch den Wähler-Zuspruch zum LFI, Podemos in Spanien, der Kommunistischen Partei Österreich (KPÖ) und dem Parti du travail de Belgique (PTB) einem Zusammenschrumpfen zu entkommen.

Vor sechs Wochen nahmen die déi Lénk-Kandidaiten an einer Konferenz des PTB-Spitzenkandidaten Marc Botenga teil, seine Partei ist laut einigen Hochrechnung aktuell zweitstärkste Kraft im Nachbarland. Botenga steht für den neulinken Flügel der Partei. Die Partei zählt aber ebenfalls Altkommunisten in ihren Reihen, weshalb sie zugleich einen Austausch mit der hiesigen Linken und der KPL pflegt. Vor einem Monat nahmen außerdem zwei Kandidat/innen an einem Seminar von der KPÖ teil. Dessen Mitglied und Vorsitzender der Europäischen Linken, Walter Baier, war letztes Wochenende bei der hiesigen Linken zu Besuch. Seit 2022 ist Ana Correia da Veiga im exekutiven Vorstand der europäischen Linken und hat das Kaderwahlprogramm mit abgestimmt. Auch wenn déi Lénk „net benzeg op e Sëtz“ in Straßburg ist, wie Ana Correia dem Radio 100,7 mitteilte, so ist die Partei doch gewillt, sich europäisch zu vernetzen.

Ökologische Themen sind den jungen déi Lénk-Politikern wichtig. Eine Gewisse Verzweiflung spricht aus Anastasia Iampolskaia, wenn sie Paperjam anvertraut: „Meine Generation hat in unserer kurzen Zeit auf diesem Planeten zu viele Krisen erlebt. Krisen wie der Klimawandel werden sich zu unseren Lebzeiten nur noch verschlimmern, wenn nicht sofort etwas unternommen wird. Was mich aus dem Bett treibt, ist das Gefühl, dass die Dinge noch schlimmer werden, wenn ich nichts unternehme.“ Auf Smartwielen ist sie für die Aufhebung von „Subventionen in der Massentierhaltung“ und ein vollständiges Verbot von Glyphosat. „Für importierte Waren aus Drittländern“ sollte die EU „strengere Umweltstandards verlangen“. In dem 17 Seiten langen Manifest, das die Partei Ende März am Parteikongress als Wahlprogramm verabschiedet hat, fordert die Linke Klimaneutralität bis 2045. Und weil die Transition sozialgerecht ablaufen soll, sollen die größten Umweltverschmutzer und „die Milliardäre“ stärker besteuert werden. Weil déi Lénk kaum Chancen auf einen Sitz und zudem eine ökologische Ausrichtung hat, hat der Brüsseler Wort-Korrespondent Diego Velazquez ihr diese Woche auf X empfohlen, sie hätte mit den Grünen eine gemeinsame Liste erstellen sollen. André Marques antwortet daraufhin, „verschidden Aussoen a Perséinlechkeeten maachen esou eng Zesummenaarbecht net méiglech“.

Und déi Lénk geht in wirtschaftspolitischen Fragen viel weiter als die luxemburgischen Grünen. Sie will einen System Change. „Der Kapitalismus und seine Profitmaximierung ist auf Ressourcenausbeutung ausgerichtet“, kritisiert Anastasia Iampolskaia. Um sich von der LSAP abzugrenzen, unterstrich Tania Mousel diese Woche, neben der KPL würde die Linke sich konsequent gegen den Kapitalismus positionieren. Im Manifest heißt es zu wirtschaftspolitischen Themen, man bringe sich gegen die Privatisierung von Spitälern und Bildungseinrichtungen ein. Zusätzlich bedürfe es europäischer Strategien, wie beispielsweise in der Energieversorgung, skizzierte André Marques während einer Pressekonferenz vor zwei Wochen. Nicht untypisch für Linke verbindet Anastasia Iampolskaia Kapitalismuskritik mit identitätsbewegtem Aktivismus – so schreibt sie auf Instagram, der „Kampf gegen Kapitalismus“ und „weiße Vorherrschaft“ beginne auf lokaler Ebene.

Der Gazakrieg treibt sie derzeit um: Unter dem Spruch „EU Shame on you for supporting a genocide“, berichtete sie auf Instagram von ihrer Teilnahme an einer Demo letzte Woche vor dem europäischen Parlament auf Kirchberg. In ihrer Instagram-Biografie verkündet sie mit einer Wassermelone, sie setze sich für „Free Palestine“ ein. Welche politische Lösung erachtet sie als wünschenswert? „Ich bevorzuge die Option eines einheitlichen Staates, in dem alle Einwohner unabhängig von ihrer Religion und ethnischen Zugehörigkeit die gleichen Rechte genießen.“ Eine Zwei-Staaten-Lösung sei für sie auch denkbar. Den Staat Israel in seiner jetzigen Form bezeichnet sie als „zionistisches Projekt, in dem eine Ethnie die Vorherrschaft über andere ausübe“. Ohne der Vielschichtigkeit des Konflikts historisch nachgehen zu wollen, urteilt sie: „Vor der Entstehung des israelischen Staates 1948 hat in der Region ein friedliches Zusammenleben geherrscht.“ Vielleicht spielt hierbei ihr Wunsch, Teil einer Bewegung zu sein, mit rein.

Stéphanie Majerus
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