Frank Engels Fokus positioniert sich gesellschaftspolitisch als reaktionäre Partei
und hofft, damit kleinbürgerliche Boomer anzusprechen

„Dat war zu eiser Zäit anescht“

Fokus-Mitglieder warten am Samstag in Munsbach auf ihren Spitzen-kandidaten für ein Gruppenbild
Photo: LL
d'Lëtzebuerger Land du 28.07.2023

Facebook Am Samstagmorgen stellte Frank Engel, Sprecher und nationaler Spitzenkandidat von Fokus, auf dem Nationalkongress im Hotel Legère in Munsbach eine Motion vor, die nicht in das Wahlprogramm aufgenommen wird. Sie diente lediglich dazu, die Kleinpartei gesellschaftspolitisch zu positionieren. In der Motion nimmt Fokus Stellung zu „Debatten“, die in den vergangenen Wochen vor allem auf Facebook und in den Kommentarspalten von rtl.lu geführt wurden (die Frank Engel regelmäßig verfolgt, wie er am Samstag gestand): Die vom ADR-Vizepräsidenten Tom Weidig ausgelöste Polemik um die Lesung einer Drag Queen in der Escher Stadtbibliothek, gendergerechte Sprache in Schulbüchern, „d’Aufhübschung vun der Geschicht mat méi weibleche Protagonisten, déi dommerweis an der Geschicht net do waren“, sagte Frank Engel. Diese Themen seien legitime Anliegen von bestimmten Leuten, die der Meinung seien, dass sie eine wichtige Sache verfolgten, aber es gebe genauso viele Leute, die sich fragten, was das mit ihnen zu tun habe. Zur freien Meinungsäußerung gehöre, sagen zu dürfen, man befürworte solche Lesungen nicht und gehe dort auch nicht hin: „Wir wollen nicht in eine Situation kommen, in der wir uns in den sozialen Medien ständig damit auseinandersetzen müssen, dass die einen gut, richtig und progressiv sind, und die anderen eine Bedrohung für die Demokratie, weil sie bestimmte Entwicklungen nicht nachvollziehen können.“ „Die anderen“, unter denen auch zehntausende Migrant/innen mit religiösen Überzeugungen seien, die „wir“ während Jahrzehnten aufgenommen hätten, seien keine Gefahr für die Demokratie, sondern nur auf einem Standpunkt, der, wenn man nicht aufpasse, sich ganz schnell verdichte in die massive Unterstützung von Parteien, die wirklich zu einer Bedrohung für die Demokratie werden könnten, mutmaßte Engel. Die politischen Schlüsse, die in der Motion aus dieser Argumentation gezogen werden: Eltern sollten wieder mehr Eigenverantwortung bei der Betreuung ihrer Kinder übernehmen, die Schulen sollten sich auf die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen beschränken, ohne sich ständig darüber Gedanken zu machen, ob ihre Ansätze und Inhalte „richtig“ seien.

Die Motion, die vom Kongress einstimmig angenommen wurde, ist in mehreren Hinsichten aufschlussreich. In einer mutmaßlich vernünftigen und diplomatischen Sprache übernimmt sie die Positionen, die auch die ADR zu diesen Themen vertritt: Die Auseinandersetzung mit Gender- und LGBTIQ+-Themen würde Kinder verwirren; Frauen und People of Colour kämen nur selten in Geschichtsbüchern vor, nicht weil sie jahrhundertelang unterdrückt wurden und die Geschichte vor allem von weißen, heteronormativen Cis-Männern geschrieben wurde, sondern weil sie eben nichts geleistet hätten. Den Begriff der Inklusion kehrt Engel in sein Gegenteil um, indem er suggeriert, die progressive Gruppe sei mindestens genauso zahlreich und mächtig wie die wertkonservative und müsse daher auf die Gefühle dieser Rücksicht nehmen. In der Motion wird behauptet, „Genderthemen“ würden den Kindern in der Schule (und Erwachsenen in den sozialen Medien) gegen ihren Willen aufgezwungen und LGBTIQ+-Personen, Antirassistinnen und Feministinnen seien schuld am Erstarken nationalistischer und faschistischer Bewegungen: „Komm mer passen e bësselchen op, wéi mer mateneen ëmginn a wéi mer Leit behandelen, déi soen, do sënn Entwécklungen ënnerwee, déi mer net méi novollzéien, dat war zu eiser Zäit anescht a mer gesinn och net, firwat dat haut muss sënn“, meinte Engel. Diese Diskussionen änderten ja auch nichts daran, dass „wir“ nicht eine Wohnung mehr gebaut, nicht einen Jungen mehr zu einem besseren Diplom geführt, keinen schneller zur Arbeit gebracht hätten. Fokus sei eine liberale Partei der Mitte, jeder solle leben, wie er es für richtig halte, aber das gelte eben auch für Menschen, die fänden, dass man Liberalismus, Progressismus und „alle anderen Ismen“ übertreiben könne.

Status Mit dieser Motion hat Fokus, die im Februar 2022 als „pragmatische und ideologiefreie“ Partei gestartet war, sich am Samstag unmissverständlich im gesellschaftspolitisch reaktionären Spektrum rechts von der CSV verortet. Vielleicht dachte sie, sie müsse das tun, weil sie mit der von Roy Reding nach seinem Austritt aus der ADR gegründeten Partei Liberté-Fräiheet vergangene Woche eine Konkurrentin bekommen hat, die ähnliche Anschauungen vertritt. In den Biografien von Frank Engel und Roy Reding lassen sich durchaus Parallelen beobachten. Beide haben ihr politisches Engagement in linken politischen Bewegungen begonnen, um dann ins rechte Lager zu wechseln. Im Unterschied zu Fokus will Liberté vor allem Anhänger/innen von Verschwörungsideologien und Gegner/innen der Corona-Maßnahmen ansprechen, die seit dem Ende der Pandemie nach politischen Inhalten suchen. Fokus ist in dieser Hinsicht moderater, sie bleibt innerhalb der Grenzen des demokratischen und parlamentarischen Diskurses und wirbt um gestandene Wähler/innen aus der Petite Bourgeoisie: Klein- und mittelständische Unternehmer/innen, Selbstständige, Privatbeamt/innen, leitende Angestellte, Anwälte, Lehrer/innen, denen die ADR zu rechtsextrem und die CSV gesellschaftspolitisch zu liberal geworden ist.

Neben der Motion hat der Fokus-Kongress am Samstag ein „Update“ des bereits im März veröffentlichten Wahlprogramms (d’Land, 14.04.2023) angenommen, das die wahlstrategische Ausrichtung auf das Kleinbürgertum und auf Kleinkapitalisten noch einmal bekräftigt. In diesem Update fordert Fokus beispielsweise eine staatliche Garantie für Freiberufler bei der Vergabe von Immobilienkrediten, die gegenüber Staatsbeamten von den Banken benachteiligt würden. „Et kann net sënn, datt herno (...) jonk Leit forcéiert ginn quasi, an de Staatsdéngscht, an den ëffentlechen Déngscht ze goen, nëmme well se sech Gedanke man, wéi se iergendwann hir Immobilië solle finanzéieren an en Immobiliëkredit solle kréien“, meinte Generalsekretär Gary Kneip. In die gleiche Logik reiht sich die Forderung ein, dass für ein Darlehen von einer Million Euro das Eigenkapital nicht höher sein darf als 75 000 Euro. „Sech e Patrimoine ze konstituéieren“ sei ein „fundamentales Recht“, verkündete Engel. „Wann de Revenu net duer geet, ass dat déi eng Saach, mee wann et de Status ass, da geet dat net.“ Umsetzen will Fokus diese Forderung, indem sie „mit den Banken spricht“.

Dass die Kleinbourgeoisie die gleichen Rechte haben soll wie die Großbourgeoisie, drückt sich auch in der Forderung aus, den Verkauf von Immobilien infolge einer Erbschaft von der Besteuerung des Mehrwerts zu befreien. Davon betroffen seien nämlich vor allem „kleine“ Erben, die etwa zu dritt ein Haus erben und zur gerechten Aufteilung des Erbes das Haus verkaufen müssten, während „große“ Erben dazu nicht gezwungen seien, etwa wenn sie zu dritt drei Häuser erben. Als CSV-Präsident war Frank Engel noch für die Einführung der Erbschaftssteuer in direkter Linie, inzwischen plädiert er für ihre „vollständige Abschaffung“. Diese Kapitulation rechtfertigte er am Samstag damit, dass eine vernünftige Debatte über die Erbschaftssteuer in Luxemburg nicht möglich sei.

Engel-Partei Auf ihrem letzten Kongress Mitte März hatte Fokus sich gegen den Vorwurf gewehrt, sie sei die „Frank-Engel-Partei“. Ihr Wahlprogramm hatte sie vor allen anderen Parteien vorgestellt, mit Slogans wie „Mut zur Veränderung“ versucht sie ihrem Anspruch gerecht zu werden, die politische „Mitte“ mit neuen Ideen „aufzumischen“, wie ihr Präsident Marc Ruppert am Samstag darlegte. Die Gemeindewahlen, die Fokus als Testlauf für die Kammerwahlen bestritt, brachten ihr nur wenig Zustimmung. In allen drei Gemeinden, in denen sie antrat, blieb sie unter drei Prozent; Frank Engel hatte nicht kandidiert. Unklar ist, wie viele Unterstützer Fokus hat. Marc Ruppert sprach am Samstag von 250 Mitgliedern und Sympathisanten, im April hatte Engel im Gespräch mit dem Land noch behauptet, es seien 600.

Oberstes Ziel von Fokus ist es, am 8. Oktober einen Sitz in der Abgeordnetenkammer zu ergattern. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt die Partei sich Mühe, „anescht ze sinn, anescht ze handelen“, und sich formal „vom Einheitsbrei der anderen Parteien“ abzugrenzen. „Dat gëtt et nëmme bei Fokus“, skandierte Frank Engel nach jeder Wahlforderung, die er am Samstag vorstellte. Ihre Vorschläge und Ideen sind nicht auf ein anderes Gesellschaftsmodell ausgerichtet, sie zielen in erster Linie darauf ab, innerhalb eines festgesteckten, wertkonservativen und kleinkapitalistischen Rahmens Aufmerksamkeit zu erregen und den Anschein von Veränderung zu erwecken. Die von Fokus geforderte Direktwahl des Bürgermeisters und des Premierministers in einem separaten Wahlgang bedeute eine „erhebliche Stärkung des Parlaments und der Gemeinderäte“, behauptet Fokus und sieht davon ab, dass bereits im aktuellen Wahlsystem in den allermeisten Gemeinden und auch bei Nationalwahlen der Kandidat mit den meisten Stimmen die Exekutive leitet. Die Einführung eines bürgerlichen Diensts von neun Monaten für Menschen zwischen 16 und 30 Jahren mag vielleicht jene überzeugen, die den moralischen Verfall der „Jugend von heute“ beklagen, was über „zusätzliche Orientierung und Erfahrungen“ hinaus damit erreicht werden soll, führt die Partei nicht weiter aus.

Was Fokus mit ihrer Forderung bezwecken will, den „100 000 Lëtzebuerger am Ausland“ das passive Wahlrecht zuzugestehen, geht ebenfalls nicht aus dem Programm hervor. Zwei Abgeordnete will die Partei unter den Luxemburger/innen wählen lassen, die in anderen EU-Staaten leben, zwei weitere unter denen, die in Drittstaaten wie beispielsweise Brasilien zuhause sind. Von den meisten Entscheidungen, die das Parlament trifft, sind sie nicht oder nur unmittelbar tangiert, eine Diaspora im eigentlichen Sinne bilden sie nicht, sie sind nur selten in Gemeinschaften organisiert. Engel begründete die Forderung am Samstag mit dem Argument, sie seien „gutt Ambassadeuren“. Ob das sie dazu berechtigt, in die Abgeordnetenkammer gewählt zu werden? Wahrscheinlicher ist, dass Fokus mit dieser Forderung bei Luxemburger/innen im Ausland Stimmen sammeln möchte. In demokratischer Hinsicht sinnvoller ist sicherlich die Forderung nach dem Wahlrecht für Nicht-Luxemburger/innen, das Fokus, im Gegensatz zur Linken, nur für EU-Bürger/innen öffnen möchte.

Mit der ADR teilt Fokus die Rhetorik der Ablehnung von „Wachstum“. Allerdings sei Fokus keine „Anti-Wachstums-Partei“, unterstrich Engel, sie sei nicht grundsätzlich dagegen, doch es löse viele Probleme nicht, beispielsweise in den Bereichen Bildung, Familienpolitik, Umwelt, Mobilität und Wohnungsbau. Die vom CSV-Spitzenkandidaten Luc Frieden geforderte allgemeine Steuersenkung sei „Schwachsinn“, denn das dadurch angestrebte höhere Wirtschaftswachstum reiche lediglich um die Folgekosten des Bevölkerungswachstums – den Ausbau der Infrastruktur – zu decken. Friedens Modell benötige „75 000 Leit pro Legislaturper-iod“, damit werde der 750 000-Einwohner-Staat 2028 erreicht und „d’Lëtzebuerger ginn zur Minoritéit an hirem eegene Land“. Statt Wachstum will Fokus sparen, indem sie keine zusätzlichen Polizist/innen einstellt, politische Nominierungen im Staatsapparat abschafft und die „permanente Überschreitung von Kostenvoranschlägen“ unterbindet.

Die Wohnungskrise will die Partei mit einer „emphyteutischen Offensive“ lösen, die aber inzwischen nur noch halb so umfangreich ausfällt wie noch vor vier Monaten: 25 000 Wohnungen in Erbpachtverträgen wolle sie in der nächsten Legislaturperiode bauen – wenn es sein müsse, auch außerhalb der Bauperimeter, betonte Engel. Im März wollte er noch 50 000 Wohnungen bauen. In der Energie- und Klimapolitik erkennt Fokus den menschengemachten Klimawandel an, ist für Elektromobilität, aber gegen das Verbrenner-Aus bis 2035, weil „wir“ bis dahin vielleicht Technologien gefunden haben, „die Verbrenner emissionsfrei machen“. Vor allem ist Fokus aber für „Wasserstoff als regenerative und umweltfreundliche Energiequelle“, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass Engel seit über einem Jahr hauptberuflich Hydrogen-Lobbyist ist. Ein bitterer Beigeschmack bleibt auch, wenn der in der Alten- und Krankenpflege als Unternehmer tätige Gary Kneip (seine Firma heißt „Liewen doheem“) mehr „Fürsorge daheim“ bei der Vorstellung des Wahlprogramms fordert.

Auffangbecken Personell unterscheidet sich Fokus von ihren direkten Konkurrentinnen vor allem dadurch, dass sie ein Auffangbecken für enttäuschte Politiker/innen aus anderen bürgerlichen Parteien ist. Von den zehn Mitgliedern des Exekutivkomitees waren fünf vorher bei der DP und drei bei der CSV aktiv. Vor den Gemeindewahlen sind viele aus der ADR hinzugestoßen, in der Hauptstadt der ehemalige Befehlshaber der Armee, Mario Daubenfeld, in Differdingen ist im März ein halbes Dutzend Kandidaten übergelaufen. Von ihren zwölf Spitzenkandidat/innen in den vier Wahlbezirken – jeweils vier im Süden und Zentrum, jeweils zwei im Osten und Norden – verfügen die meisten trotzdem nicht über politische Erfahrung. Außer dem früheren grünen Escher Gemeinderat und Ko-Spitzenkandidat im Süden, Luc Majerus, bekleidete bislang keiner von ihnen ein kommunal- oder nationalpolitisches Amt. Marc Ruppert, Ko-Spitzenkandidat im Zentrum, war immerhin von 2015 bis 2017 Generalsekretär der DP, Gary Kneip (Süden) trat 2017 als Spitzenkandidat für die DP in Käerjeng an, wurde jedoch nicht gewählt. Deshalb ruhen alle Hoffnungen von Fokus auf dem früheren EU-Abgeordneten und CSV-Präsidenten Frank Engel. Und auf Fernand „Bim“ Diederich, langjähriger Bürgermeister von Colmar-Berg und von 2004 bis 2013 LSAP-Abgeordneter im Parlament. Spitzenkandidat ist er zwar nicht, doch er wird wohl der erfahrenste Politiker auf den Wahllisten von Fokus sein. Die Hauptmotivation des 78-Jährigen, für Fokus zu kandidieren: Er möchte verhindern, dass die neue Piraten-Bürgermeisterin von Colmar-Berg, Mandy Arendt, im Zentrumsbezirk in die Kammer gewählt wird. Am 8. Juni hatte sie in der Majorzgemeinde 28 Stimmen mehr bekommen als er. Diese Art von Ressentiment dürfte Diederich mit vielen anderen Fokus-Kandidat/innen teilen.

Luc Laboulle
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