Was war das für ein Sommer!

Die Wahrheit ist dem Menschen nicht zumutbar

d'Lëtzebuerger Land vom 06.09.2013

Herr, der Sommer, er war groß. Mit Meeren, Wüsten, Walen, mit Bergen, von denen wir fern sahen. Manche ruhten auch einfach nur in sich selber, vor Fernsehgeräten oder auf kleinen Balkonen, auf denen sie Blumen in die Augen schauten. Die Zeit hielt inne, denn es war Sommer, er war groß, Hitzewellen rollten über das Land, hin und wieder stieg eine Familie in ein Auto, die Alten schoben ihre Rollies in Trance. Der Sommer, er war groß und tief, ein schwarzes Sommerloch, in das sie bang hineinstarrten, es schluckte alle, Mensch und Maus. Menschen verschlangen einander und sagten dabei Liebe. Dann donnerte es, einer sagte, ich muss gehen, es wurde auch schon kälter.

Herr, der Sommer, er war groß, viel zu groß. Gut, dass das vorbei ist, aneinander klebende Menschen, ein Meer, das einem die Füße leckt, bis man ganz durcheinander ist. Gut, dass wir wieder auf den Asphalt gespuckt werden, wir spucken in die Hände, wir gucken in die Röhre, wir laufen im Kreis und im Viereck, wir stürzen, stützen uns auf Termine. Braddlerie, wie beruhigend, dass die Stater Damen im reifen Alter immer noch Frisuren haben und nicht einfach nur Haar wie in den Nachbarländern. Wir essen immer noch Thüringer, ob das jetzt politisch korrekt ist oder nicht. Gute Menschen schenken uns Äpfel und Orangen und sogar kleine Windräder. Wir können jetzt wählen, suggerieren sie uns, nicht nur im Supermarkt und nicht nur unter den neuen Autorassen, nein, Menschen sogar.

Von den Plakaten schauen Gesichter von so genannten Kandidat_innen; leider vergessen wir sie gleich wieder, sie haben so wenig Unvergessliches. Das ist nicht schlimm, wir werden sie ja immer wieder sehen, sie sprechen zu uns, sie wiederholen ihre Botschaft, sie haben allerhand vor, nur Gutes. Sie meinen es alle gut, davon können wir ausgehen, oder? Oder führen sie Schlimmes im Schilde, die Arbeiterklasse auszubeuten oder die Natur oder die Frauen zu unterdrücken, vorsätzlich, Frauen an den Herd, Tiere in den Topf? Sie touren durch die Lande, die Kandidat_innen wenden sich an das Volk und machen ihm Angst oder beruhigen es, je nachdem. Dem Volk ist das alles ziemlich egal, das Volk hat ja nicht die Wahl, es muss ja wählen. Es steigt noch lange nicht aus dem Auto und auf die Barrikaden, dafür ist es viel zu gut genährt, höchstens im Internet, wo es ein bisschen vor sich hin schäumt.

Das Volk spielt also mit im Kindertheater, auch wenn es gähnt und den Text und das Stück schon kennt, die Darsteller_innen auch, selbst die, die es nicht kennt, kennt es schon, es ahnt, wie es weitergeht. Das Volk ist kein Spielverderber, es ist rücksichtsvoll wie die Kinder, wenn der Papi als Kleeschen kommt. Wir Volk spüren die Folklore, sie ist leider dürftig, es ist nichts dahinter, sagen wir Volk. Dieses Nichts ist uns Volk unheimlich, dieses von Konzernen und Banken besetzte Nichts. Wohlstand, sagen die Kandidaten, Sicherheit, Bildungsoffensive, Renten, Autos, Straßenbahnen, Jugend, Alter, Klima, Index, Syrien, und wir Volk fragen uns, ob sie eigentlich die Fäden spüren, an denen sie zappeln. Vielleicht nicht, und wenn doch, warum sagen sie es uns dann nicht? Vielleicht wollen sie uns schonen, vielleicht würde uns der reine Wein umbringen. Die Wahrheit ist dem Menschen überhaupt nicht zumutbar.

Die proletarierfreien Grünen aus den Professor_innenhochburgen radeln über die Plëss. Sie wirken so schrecklich sauber, beinah steril, ihre Damen tragen Business-Jäckchen. Sie stehen sinnierend vor Gewässern und wollen weiter die Welt verbessern. Man muss ja auch nicht dauernd über das Elend in der Welt reden, über unappetitliche Themen wie zum Beispiel Armut. Es gibt ja eine wahrhaft große Auswahl an Parteien, genug Choix, für jede und jeden müsste etwas dabei sein – wenn nicht, kann er oder sie eine neue ins Leben rufen, eine noch alternativere Alternative, Alternativen gibt es nie genug.

Dann können wir nach Herzenslust wählen, was wir ja sowieso müssen.

Michèle Thoma
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